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Kultur: Das graue Schillern

Moritz Rinke über Hildebrand Gurlitt.

Als Kind habe ich ein ganzes Frühjahr nach der Kunst eines Verwandten gegraben. Carl Emil Uphoff lebte in Worpswede im heutigen Paula-Modersohn-BeckerHaus und vergrub 1937 seine Werke im Garten. Ein angesehener Expressionist sei er gewesen, erklärte meine Tante, und bevor die Nazis ihn als „entartet“ bezeichnen konnten, vergrub der Bruder ihres Schwiegervaters Radierungen und Skulpturen. „Sechs Frauenköpfe“ oder sein „Weiblicher Akt“ von 1914 sind erhalten geblieben, aber offenbar hatte er weitere Frauenköpfe und Akte vergraben. Uphoff vergrub auch sein altes Leben und wurde ab 1936 oberster Zensor für Kunst in der Künstlerkolonie. Nach dem Krieg erinnerte er sich seiner „entarteten“ Werke und wollte sie den Entnazifizierungsbehörden vorlegen, doch er fand sie im Garten nicht mehr.

Als wir diese Geschichte hörten, konnten wir es kaum erwarten, bis im Frühling der Boden taute und wir im Garten graben konnten. Manchmal stoppte ich meine Cousine, wenn sie den Spaten in den Moorboden stach, weil ich Stimmen hörte. Ich war sechs Jahre alt und der Meinung, Kunstwerke würden Zeichen geben und rufen. Manchmal glaubte ich, einer der Frauenköpfe hätte etwas gesagt und legte mein Ohr auf den Moorboden. Ich glaubte sogar, sie würden sich über den Bruder des Schwiegervaters meiner Tante unterhalten, sie kannten ihn ja persönlich.

An diese Stimmen musste ich denken, als nun die verschollene „entartete Kunst“ zusammen mit einem Dürer oder Spitzweg gefunden wurden, in MünchenSchwabing, in der offenbar zugemüllten Wohnung Cornelius Gurlitts, Sohn des NS-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt.

Was haben sich die vergrabenen Werke all die Jahre erzählt? Kirchners „Melancholisches Mädchen“, stelle ich mir vor, muss ihn gehasst haben, diesen Gurlitt, der plötzlich seine jüdische Herkunft verleugnete und zum Chefeinkäufer für Hitlers Führermuseum in Linz avancierte, ähnlich wie Uphoff in Worpswede.

Aber hat er nicht die moderne Kunst geliebt, für sie gekämpft, sie an Sammler vermittelt und vor der Vernichtung bewahrt?, würde der Frauenkopf von Picasso fragen, den Gurlitt beim Meister gekauft hatte. „Alles Verbrecher, sofort alle einsperren!“ – die „Sitzende mit Fächer“ von Matisse würde sich überhaupt nicht mehr einkriegen: „Ich hing mal in der Klopstockstraße in Berlin! Da will ich sofort wieder hin! Stattdessen gammele ich bei den Gurlitts rum und jetzt auch noch bei den deutschen Behörden! So viel kann ich gar nicht fächern, wie ich kotzen könnte!“

„Cool bleiben!“, würde Beckmanns „Löwenbändiger“ rufen. „Sei doch froh, dass du nicht im Führermuseum in Linz gelandet bist! Mich hat Gurlitt sogar im Exil im Atelier in Amsterdam besucht, im Oktober 1943, es war ein Dienstag!“

„Lange halte ich das nicht mehr aus“, würde jetzt Dürers „Gekreuzigter“ sagen. „Ich, ein Kupferstich von Albrecht Dürer, liege hier zwischen Konserven mit Erbsen!“ Der Spitzweg würde applaudieren, und die Pferde von Franz Marc würden mit den Hufen scharren, weil sie endlich raus aus der dunklen Wohnung wollen.

Ich glaube, all diese Werke würden uns Geschichten über eine Zeit erzählen, die wir allzu schnell in Gut und Böse teilen. Dieser Hildebrand Gurlitt wäre vielleicht eine ähnlich spannende, dramatische Figur wie Gustaf Gründgens (oder gar Günter Grass), an dessen Biografie wir erahnen könnten, dass die Lebenswege von Menschen damals nicht immer schwarz oder weiß waren, sondern eher grau: grau mit weiß und schwarz – schillernd.

Und Hildebrand, was für ein verwirrender Name für einen Mann mit jüdischer Großmutter! Seine Frau, die Mutter von dem, bei dem jetzt alles ausgegraben wurde, war die Tänzerin Bambula. In den „Nibelungen“, auch so ein schillernder Stoff, erschlägt die Figur Hildebrand am Ende Kriemhild, die allein weiß, wo der große Schatz versenkt wurde. Hildebrand glaubte, der Schatz bringe nur Ärger, vielleicht sieht die Staatsanwaltschaft in Augsburg das ähnlich, die jetzt mit dem Gurlitt-Schatz befasst ist.

Meine Cousine und ich haben Uphoffs Kunst übrigens nie gefunden. Meine Tante tröstete uns damit, dass wir sowieso nicht am Gewinn beteiligt worden wären, denn bei dem Bruder vom Schwiegervater sei die Rechtslage kompliziert, das halbe Dorf würde sich melden. Dass Kunstwerke aber Seelen haben und sprechen können, den Glauben habe ich nie verloren.

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