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Kultur: Das große Packen

Wie ein deutscher Archivar der Nachlassverwalter des Filmemachers Stanley Kubrick wurde

Seit Stanley Kubrick in Bernd Eichhorns Leben getreten ist, sitzt er ständig auf gepackten Koffern. Oder genauer: Seitdem packt er ständig Sachen in Koffer und Kisten, sortiert, wählt aus, katalogisiert und schichtet um. Und wenn demnächst in London ein Kubrick-Archiv entsteht, ist es Bernd Eichhorn, der die Schätze dort wieder auspacken wird.

Begonnen hatte es im Jahr 2002. Damals arbeitete Eichhorn, Jahrgang 1961, als Filmarchivar in Berlin, als das Filmmuseum in Frankfurt am Main seine große Ausstellung über den Schöpfer von „Shining“, „Clockwork Orange“, „Full Metal Jacket“ und „2001: Odyssee im Weltraum“ organisierte. Eichhorn fragte in Frankfurt nach, ob man noch jemanden brauchen könnte, der bei der Aufbereitung des Nachlasses hilft, und machte sich auf den Weg nach Frankfurt. Dass er ein paar Monate später im Zug nach London sitzen sollte, um die Hinterlassenschaft des rätselhaften Kinogenies persönlich zu sichten, konnte er zunächst selbst nicht glauben. „Ich hatte natürlich fast alle Filme gesehen“, sagt er nun, „aber ein ausgewiesener Spezialist war ich nicht.“

Am Bahnhof in London erwartete ihn Jan Harlan, Sohn des „Jud Süß“-Regisseurs Veit Harlan und Cousin von Kubricks Witwe Christiane. „Christiane Kubrick war es sehr wichtig, dass das jemand macht, zu dem sie Vertrauen hat, weil sich diese Person ziemlich frei auf dem Gelände und in allen Räumlichkeiten bewegen durfte“, mit Ausnahme der Privaträume der Witwe. Offenbar war ihr der Mann aus Deutschland sympathisch, und so wurde man sich einig, dass Eichhorn von März bis November 2003 auf dem Anwesen wohnen und sich um Kubricks Vermächtnis kümmern würde. Familienanschluss inklusive.

Kubrick hatte sich in den siebziger Jahren in dem kleinen Ort St. Albans nördlich von London einen stattlichen Landsitz mit 50 Zimmern und sehr viel Land gekauft. Zuvor soll das Anwesen aus dem 13. Jahrhundert einem südafrikanischen Diamantenhändler gehört haben, der dort 50 Angestellte beschäftigte. Kubrick wandelte die Stallungen in Produktionsbüros um, die sich langsam mit allem anfüllten, was der Regisseur und Produzent für seine Projekte zusammensammelte: Briefe, Fotos, Zeichnungen, Romane, Drehbücher, Skizzen, Kostüme, Perücken, Masken, viele Kameras und eine umfangreiche Objektivsammlung. Als Eichhorn mit seiner Arbeit begann, waren die Produktionsbüros bereits aufgelöst, Christiane Kubrick hatte sich dort ein Atelier eingerichtet, in dem sie malt, Unterricht gibt und Ausstellungen organisiert.

Kubricks Hinterlassenschaften waren auf dem gesamten Grundstück verteilt, in Schuppen und Zimmern, auf dem Dachboden und im Keller, in Kisten und Kartons: Es war ein im wahrsten Sinne des Wortes Riesendurcheinander. „Acht Monate klingt viel“, sagt Eichhorn rückblickend, „dennoch reichte die Zeit kaum. Kubrick hatte seine eigene Ordnung. Und vieles hat er wahrscheinlich einfach deshalb nicht weggeworfen, weil er genug Platz hatte, es aufzubewahren.“

Anfangs arbeitete Eichhorn von Montag bis Freitag je elf bis zwölf Stunden. Aber dann machte er auch die Wochenenden durch: „Sonst wäre ich nie fertig geworden.“ Er sortierte alles, was interessant sein konnte und ordnete es den einzelnen Filmprojekten zu. Legte eine Datenbank an, machte Fotos von den Funden und mailte sie alle zwei Tage nach Frankfurt. Parallel dazu recherchierte er nach anderen Personen und Institutionen, die ebenfalls im Besitz von Kubrick-Material sein konnten.

Viele Schätze hat er zutage gefödert, unter anderem ein Foto des legendären Set-Fotografen Jan Schlubach, das unbeachtet auf dem Fußboden herumlag. Heute ist es Teil der Stanley-Kubrick-Ausstellung, die durch die Welt reist, in Berlin war sie bereits 2005, danach in Melbourne, Rom und im belgischen Gent.

„Ich glaube, für die Familie war das Wesentliche meiner Arbeit, dass erstmalig jemand Drittes die Sachen unter einem anderen Gesichtspunkt angeschaut hat“, sagt Eichhorn. „Dinge, die einen immer umgeben, verlieren an Bedeutung. So hatte auch die Witwe damit gelebt, tagein, tagaus, es waren immer die Sachen von ihrem Mann, nicht die von Stanley Kubrick, dem weltberühmten Regisseur.“ Für Eichhorn barg jede Kiste, die er öffnete, etwas Überraschendes, ob es nun Produktionsunterlagen oder handschriftliche Notizen von Kubrick waren.

Es war höchste Zeit, die Sachen ihrer Heimat zu entreißen. „Um die Papiere vor Feuchtigkeit zu schützen, machte man etwas, was eigentlich noch schlimmer war“, erzählt Eichhorn. „Man hat die Räume extrem beheizt. Dadurch trockneten die Papiere aus und drohten zu zerbrechen. Wenn etwas angeschimmelt ist, kann man es meistens reparieren, aber wenn es zerbröselt ist, ist es weg.“

Um den Nachlass ihres Mannes vor weiterem Verfall zu bewahren, entschloss sich Christiane Kubrick, auch alles, was nicht Teil der Ausstellung geworden war, wegzugeben und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – bis auf Kleinigkeiten wie den großen Holztisch aus „Shining“, an dem Jack Nicholson immer wieder seinen Satz tippte: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“ An ihm versammelt sich die vielköpfige Familie immer noch täglich in der Küche zum Essen.

Neunhundert Kisten hat Eichhorn gepackt, alle fein säuberlich sortiert, in seiner Datenbank katalogisiert und in Containern auf dem weitläufigen Grundstück gestapelt. Vor kurzem ist er wieder nach St. Albans gereist, hat vorher Wohnung und Telefon gekündigt und sich von seinen Freunden verabschiedet. Eine neue, größere Aufgabe steht an, eine, die noch mehr Zeit in Anspruch nimmt: alles wieder auszupacken. Die University of the Arts in London teilt auf ihrer Website erfreut mit, dass das Archiv des „spät umjubelten Filmemachers Stanley Kubrick“ hier ein neues Zuhause findet. Dafür entsteht im Süden der Stadt eigens ein neuer Gebäudetrakt, der voraussichtlich Ende dieses Jahr eröffnet wird.

Es war Christiane Kubricks Wunsch, dass Eichhorn das Archiv aufbaut. „Ein Traumjob“, sagt er, wenn auch zunächst auf zwei Jahre befristet. Auf der Website ist sein Name noch nicht verzeichnet. Aber das wird sich gewiss noch ändern.

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