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Kultur: Das große Wir

Caroline Fetscher über die Hilfsbereitschaft beim Eindämmen der Flutkatastrophe Eine ungewöhnliche Hilfsbereitschschaft erleben wir in diesen Tagen, einen unerwarteten sozialen Überschuss: An den Bankschaltern der Republik überweisen flutentfernt lebende Bürgerinnen und Bürger Geld auf Spendenkonten. An den Ufern der anschwellenden Flussläufe füllen flutnah lebende Bürgerinnen und Bürger Säcke mit Sand und stapeln sie gemeinsam zu Deichen auf.

Caroline Fetscher über die Hilfsbereitschaft beim Eindämmen der Flutkatastrophe

Eine ungewöhnliche Hilfsbereitschschaft erleben wir in diesen Tagen, einen unerwarteten sozialen Überschuss: An den Bankschaltern der Republik überweisen flutentfernt lebende Bürgerinnen und Bürger Geld auf Spendenkonten. An den Ufern der anschwellenden Flussläufe füllen flutnah lebende Bürgerinnen und Bürger Säcke mit Sand und stapeln sie gemeinsam zu Deichen auf. Im Fernsehen kämpfen Berichterstatter mit den Tränen. Die Dämme brechen, auch die seelischen. Dieses Szenario kann uns wie ein glücklicher Umstand erscheinen, mitten im Desaster. Vorübergehend aufgehoben erscheint die von Soziologen, Politikern und Medien beklagte Gesellschaft als Ich-AG, jene fragmentierte Assoziation von Leuten, die nichts weiter im Sinn haben, als der Unternehmer ihrer selbst zu sein und der Konkurrent jedes anderen. Jetzt wird geholfen – ohne Ansehen der Person. Nachbarn sind wieder Nachbarn, Familien wieder Familien.

Wo Säcke mit Sand gefüllt werden, ist normalerweise der Feind nicht weit. Aufgetürmt zum Abpuffern von Geschossen oder Granatsplittern, sind Sandsackberge meist Zeugnis dessen, dass Tausende von Händen daran arbeiten, einem Widersacher Paroli zu bieten. Hinter sandsackbefestigten Mauern und Checkpoints solidarisiert man sich; davor lauert der Angreifer. Gewöhnlich ist der Sandsack ein Zeichen des Misstrauens, der Abschottung, der Abwehr. Im Fall der Flut jedoch fehlt der Feind als antagonisierender Gegner, und die Sandsackburg wird zum Faktor der Inklusion, nicht der Exklusion. Die jetzige Bedrohung entlang der Elbe ist augenlos und willenlos, eine sich ins Land wälzende Wassermasse ohne Sinn, Absicht und Verstand. Vor wie hinter den Sandsackmauern sitzen mithin die jeweils selben Leute: Alle sind betroffen, jeder hilft jedem. Das große Wir: Die Gebiete der Überschwemmung melden das Auferstehen der Hilfsbereitschaft aus dem Geist der kollektiven Coolness.

Was steckt in den Sandsäcken? Eine neue Mentalität von aus der Egokratie erwachten Leuten? Verbessert die Klimakatastrophe das gesellschaftliche Klima? Helfen hat nicht selten negative Konnotationen. Hilfe beschämt den Helfenden und den, dem geholfen wird. Ob Sozialhilfe, Militärhilfe, Missionshilfe, Entwicklungshilfe oder Lebensmittelhilfe: Helfen setzt einen Schwächeren voraus, ein Machtgefälle, eine Asymmetrie in der Beziehung, die nicht selten zum Zweck des Dominierens eingesetzt wird.

Deutsche helfen Deutschen

Helfen und Sichhelfenlassen, beides ist suspekt. Um im Gefälle der Flut eine Symmetrie herzustellen, erfand die Redaktion einer Berliner Boulevardzeitung vor ein paar Tagen den Slogan: „Deutsche helfen Deutschen“ und setzte ihn in Balkenlettern auf die Titelseite. Das suggerierte ein ethnisch-national motiviertes Geben und Nehmen. Die Formulierung will auf keinen Fall den ehrenrührigen Aspekt von „Entwicklungshilfe“ anklingen lassen – vor allem will sie ohne den eher linken Begriff der Solidarität auskommen. Solidarität ist ein politischer Vertrag, ein reziprokes Konzept: Ihr Motiv ist nicht das Auskosten oder Ausnutzen der Asymmetrie. Zur Solidarität gehört gerade, dass das Gefälle nicht ertragen, die Asymmetrie nicht als naturgegeben hingenommen wird. Vielmehr soll Symmetrie hergestellt werden – und damit Gerechtigkeit.

Wo Deutsche Deutschen helfen, sind die Flutopfer in Ungarn, Österreich oder Tschechien irrelevant – ganz zu schweigen vom gegenwärtigen China oder den alljährlich in Indien oder Bangladesh wiederkehrenden Fluten, die tausende Tote fordern. „Deutsche helfen Deutschen“ baut eher darauf, dass im kollektiven Assoziationspool die Bilder der Backsteine und Eimer weiterreichenden Trümmerfrauen geweckt werden.

Spendenbereitschaft kann auch international entstehen: Wenn Fernsehbilder einer von Hilfsorganisationen so genannten „high visibility crisis“ (in Eritrea, im Kosovo) ein Massenpublikum erreichen. Einzelne Leidtragende werden zu Identifikationsfiguren: Sie repräsentieren Unschuld und belasten das Gewissen. Wie die Robbenwelpen, mit denen Ökologen an das Kindchenschema appellierten. Wer sich von solchen Bildern stimulieren lässt, verfolgt das Weltgeschehen nach dem Diktat der medialen Bilderschübe – weil ihm Zeit, Bildung, Motive fehlen, sich eine eigene, innere Bibliothek zu schaffen. Das ist nicht unbedingt ethisch fragwürdig, wenn auch ethisch unfertig. Dennoch zeigen die hilflosen Helfergesten, dass der Impuls zur Solidarität, zum politisch wachen Helferverhalten, durchaus geweckt werden kann.

Europäer helfen Europäern

Wo die Hilfsbereitschaft, der temporäre Ausbruch aus dem konkurrenzgeprägten Alltag, primär als „nationale Anstrengung“ charakterisiert wird, bleibt sie eine bloße Sandsackphase, deren Säcke mit blindem Inhalt gefüllt sind. Kanzler Schröder weiß selbstverständlich, dass es um mehr geht: um grenzüberschreitende Reziprozität. Im selben Atemzug, mit dem er die Parole der nationalen Anstrengung ausrief, lud die deutsche Regierung die Nachbarländer an einen europäischen Tisch zur Debatte über mögliche Kooperationen angesichts der Notlage.

Gerade jetzt könnte nicht nur im Konferenzsaal der Eliten, sondern in der gesamten Gesellschaft, die transnationale Züge so dringend benötigt, das Europäische und Kosmopolitische betont werden. Die Hilfsbereitschaft bietet einen guten Anlass zur Erweiterung des Horizonts. Eingedeicht hingegen baut die offizielle und mediale Rhetorik auf Nationalismen. Auf Provinz.

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