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Kultur: Das Gültige im Flüchtigen

Gesichter einer Stadt: Die Kunststiftung Poll ehrt die Porträtfotografin Ursula Kelm

Noch heute gibt es entlegene Weltgegenden, wo die Menschen fürchten, dass Kameras ihnen etwas von ihrem Sein rauben. Auch von Honoré de Balzac ist überliefert, dass er sich den menschlichen Körper als eine Abfolge unendlich dünner Schichten vorstellte, von denen mit jeder Fotografie eine abgelöst und verbraucht würde. Aberglaube, gewiss, aber ein Aberglaube, der die Intention der meisten Porträtfotografen durchaus richtig verortet: Ständig hört man von ihnen den Satz, sie wollten die Persönlichkeit eines Menschen in einem Bild erfassen.

Die Berlinerin Ursula Kelm hält das für Blödsinn: „Das ist natürlich immer nur ein Moment.“ Ganz essenziell kommt diese Haltung in den flüchtigen Gesten zum Ausdruck, die ihre Porträtbilder charakterisieren: Helmut Schmidt neigt den Kopf, er ist unscharf abgelichtet, fast verschmilzt er mit der Bücherwand hinter ihm. Die Fotografin richtet ihr Interesse ganz auf die linke Hand vor seinem Gesicht, auf die Zigarette zwischen Zeige- und Ringfinger: Hier ist das Bild scharf. Heiner Müller fasst sich bedächtig an den hohen Haaransatz, bei ihm ist die Zigarre so obligatorisch wie bei Schmidt die Zigarette. Anders die Frauen: Die Modemacherin Mari Otberg und die Bildhauerin Sabina Grzimek wuscheln sich mit den Händen durchs Haar. Momente, Bewegungen, scheinbare Schnappschüsse.

Diese und 75 weitere Bilder der Fotografin, die gerade ihren 65. Geburtstag gefeiert hat, werden derzeit in einer Berliner Ausstellung und in einem neuen Fotoband präsentiert. Es sind „Berliner Gesichter“, Porträts aus 20 Jahren. Jedes steht für eine Facette des Mikrokosmos Berlin. In ihrer Summe ergeben sie auch ein kleines Porträt der Stadt: Berlin im Wandel der Zeiten – vor, während und nach der Wende. Die Lebenserfahrungen dieser Jahre haben ihre Spuren in den Gesichtern hinterlassen.

Auch Ursula Kelm ist in Berlin geboren, seit 31 Jahren lebt sie in ihrer Moabiter Wohnung. Die Entscheidung, das künstlerische Fotografieren zu ihrem Beruf zu machen, hat sie Ende der sechziger Jahre getroffen, da hatte sie schon einige Jahre als Industriekauffrau gearbeitet. Geprägt hat sie die Ausbildung an der Kreuzberger Werkstatt für Photographie in den frühen Achtzigern. Die angesehene Schule orientierte sich damals stark an der amerikanischen Dokumentarfotografie, Ursula Kelm lernte Larry Clark kennen. Der Realismus war für sie kein Käfig: „Für Experimente war ich immer zu haben – aber nicht die, wo es nur um Technisches geht, was jeder Zwölfjährige beherrscht. Es muss etwas dahinterstecken.“ Sie fotografierte mit zweifach belichtetem Film, mit Polaroids und mit dem Handy – um bei den „Berliner Gesichtern“ nun auf jede Extravaganz zu verzichten: digitale Kleinbildaufnahmen, kein Stativ, kein Blitz, keine elektronische Nachbearbeitung, alles in Schwarzweiß: „Die Farbe stört, ich kann es nicht anders sagen. Die vermisst man nicht.“

So scheint sie auch über Kleidung zu denken, Ursula Kelm trägt bevorzugt Schwarz. Eine Asketin ist sie deshalb nicht, ihr Zuhause ist kein penibel geordnetes Puristendomizil. Eine Wandfläche wird beherrscht von einer immer wieder neu variierten Collage künstlerischer wie privater Aufnahmen. Wenn Ursula Kelm ihre historischen Fotoapparate vom Trödelmarkt erklärt, wird sie ein bisschen nostalgisch. Sei 2001 fotografiert sie ausschließlich digital. Aber: „Ich bin gerne in der Dunkelkammer gewesen, ich habe das Anfassen des Papiers geliebt.“

Die von ihr Porträtierten nennt Ursula Kelm „Menschen, die in der Mitte stehen, und Menschen am Rand, die sonst niemand richtig wahrnimmt“. Darunter Prominente wie Willy Brandt, Richard von Weizsäcker, Peter Raue, Michael Ballhaus und Katharina Thalbach, aber auch Unbekannte wie der Kioskbesitzer Ahmed Sari. Sie sind nicht alle in Berlin geboren, aber alle – ob Politiker, Künstler oder Sushi-Koch – verbindet etwas mit der Stadt. Ursula Kelm fotografiert sie an ihrem Arbeitsplatz oder im privaten Umfeld, immer an vertrauten Orten. Das schafft Nähe. In den Bildern aber spielen die Orte dann keine Rolle mehr, oft sind sie gar nicht identifizierbar. Nichts lenkt von den Menschen ab, der Rückschluss von den Dingen auf ihre Besitzer wäre zu einfach. Und er würde darüber hinwegtäuschen, dass die Fotografin nicht daran glaubt, eine Persönlichkeit in nur einem Bild erfassen zu können.

Ursula Kelm lotet stattdessen die Möglichkeiten des Schnappschusses aus. Sie sucht den Moment abseits vom nach außen Gekehrten. Dafür verbringt sie manchmal viele Stunden mit den Menschen, spricht mit ihnen, bis der entscheidende Moment gekommen ist. Wenn sie dann auf den Auflöser drückt, bricht das Gespräch ab: Gleichzeitig fotografieren und sprechen, das geht nicht, sagt sie.

Den NS-Historiker Götz Aly zeigt sie breitbeinig vor seinen Aktenordnern sitzend, er trägt Jeans, die sichtlich spannen, die Hände ruhen auf den Oberschenkeln. Eine Haltung, die man von der öffentlichen Person, vom Talk-Show-Gast Aly nicht kennt. Wie viel Geduld hat die Fotografin dafür aufbringen müssen? Durch Annäherung bringt sie die Menschen dazu, ihre eingeübten Rollen abzulegen. Nicht immer ist sie damit erfolgreich: Peter-Klaus Schuster mag von der Pose nicht lassen, auch bei Corinna Harfouch könnte der Griff in den Nacken, der scheinbar verträumte Blick eher auf Kenntnis ihrer Außenwirkung beruhen.

Hier wird ein weiteres Grundprinzip von Ursula Kelm deutlich. Sie will die Annäherung, beharrt aber nicht darauf: „Ich möchte niemandem einen Teil seiner Würde nehmen.“ Honoré de Balzac müsste keine Angst vor ihr haben.

„Berliner Gesichter. Fotografien 19872007“, bis 15. 12. in der Kunststiftung Poll, Gipsstr. 3. Der Bildband „Am Rand und in der Mitte“ (InfoPress, Berlin 2007, 29,50 €) wird am 28. 11. in der Akademie der Künste vorgestellt (20 Uhr, Hanseatenweg 10).

Jens Müller

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