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Erzählüberschwang. Mo Yan wuchs unter Bauern auf, die oft großartige Geschichten erzählten. Heute lebt der 57-Jährige in Peking. Ob er zur Verleihung der weltweit höchsten Literaturauszeichnung am 10. Dezember nach Stockholm reist, weiß er noch nicht. Foto: Reuters

© dapd

Kultur: Das Herz auf der Essschale

Fantastischer Realist und Chronist der Kulturrevolution: Der in China vielgelesene Schriftsteller Mo Yan ist kein Dissident. Aber ein Autor mit politischer Sprengkraft.

Von Gregor Dotzauer

„Sprich nicht“, ermahnte ihn seine Mutter zu Zeiten der Kulturrevolution, aus Angst, er könne sich um Kopf und Kragen reden. Auf Chinesisch: „Mo yan!“ Sie muss es ihm so oft eingeschärft haben, dass es für den Schriftsteller später die natürlichste Sache der Welt war, seinen bürgerlichen Namen Guan Moye in Mo Yan, den Sprachlosen, zu ändern und sein Pseudonym als eloquenter Redner wie als stoffsatter Fabulierer Lügen zu strafen.

Episches Erzählen, sagte er über seinen Roman „Die Sandelholzstrafe“, müsse so breit sein wie der Yangtse. Tatsächlich ist es so farbig wie die rote Hirse, die in „Das rote Kornfeld“ bis zum Horizont wogt, und so übervoll mit Sinneseindrücken wie „Die Knoblauchrevolte“. Angezettelt 1987 von den Bauern seines Heimatdorfs Gaomi, liegt erst der Duft frisch geernteten Knoblauchs über der Region – und wenig später ein erstickender Modergeruch: Die korrupten Behörden weigern sich, die Ernte wie vereinbart abzunehmen.

Nun also der mit 930 000 Euro dotierte Literaturnobelpreis für Mo Yan, der seine Romane, Novellen und Erzählungen nach eigenem Bekunden wie bei „Der Überdruss“ in mitunter anfallsartigen Schreibschüben herstellt. In seinen Büchern, so die Begründung der schwedischen Akademie, vereine der 57-Jährige „mit halluzinatorischem Realismus Märchen, Geschichte und Gegenwart“. Und Sprecher Peter Englund ergänzte, als er der Weltöffentlichkeit am Donnerstag Punkt 13 Uhr die Entscheidung bekannt gab, Mo Yan sei eine „Mischung aus Faulkner, Charles Dickens und Rabelais“.

Was die Schichten angeht, die sich in seinen Texten überlagern, ist das eine treffende Beschreibung. Mit William Faulkner teilt er er den Sinn für das Hypnotische einer Landschaft, die zum Dreh- und Angelpunkt eines Universums ausgestaltet wird. Gaomi, die heute 850 000 Bewohner umfassende Stadt in der Provinz Shandong südlich von Peking, in der er zusammen mit seinem Bruder und seinem Vater die ersten 20 Jahre seines Lebens verbrachte, ist für ihn, was für Faulkner Yoknapatawpha County war, für Juan Carlos Onetti Santa Maria oder für den von ihm bewunderten Gabriel García Márquez Macondo. Charles Dickens definiert die Meisterschaft, mit der er einem ins Magische ausgreifenden sozialen Realismus pflegt, der die Rechte des Individuums verteidigt. Und Rabelais setzt den Maßstab für ein lustvolles Wuchern der Wörter, das doch etwas anderes ist als Geschwätzigkeit.

Nur ist Mo Yans Realismus weit weniger in weltliterarischen Strömungen verankert als in zutiefst autobiografischen Erfahrungen – und einem Widerstand gegen einen lange von oben verordneten Sozrealismus, der nur strahlende Helden kennt. Selbst ein Bauernsohn, prägten den heute in Peking lebenden Autor die Geschichten der Bauern um ihn herum, von frühester Jugend an. „In unserer Gegend“, erinnert er sich in einem Gespräch mit Bernhard Bartsch, „gab es einige großartige Erzähler, die abends die wildesten Anekdoten zum Besten geben konnten. Das war schon früh mein Traum: wie diese Bauern endlos Geschichten erzählen zu können. Und tatsächlich ist ihre Sprache, die ganz ungestüm, übertrieben und drastisch ist, zur Sprache meiner Bücher geworden.“

Mo Yan hat die Kämpfe dieser Bauern am eigenen Leib erlebt: die Hungersnöte als Folge des „Großen Sprungs nach vorn“, der Stadt und Land Ende der Fünfzigerjahre auf das gleiche Modernitätsniveau bringen sollte. Und den Umerziehungswahn der Kulturrevolution, die Mao Zedong zwischen 1966 und 1976 betrieb. Wegen ihr konnte Mo Yan nur fünf Jahre die Schule besuchen.

Die frühe Erfahrung des Hungers hat ihm wohl jene Obsession für das Essen und seine Metaphern eingegeben, die sich immer wieder in seinen Romanen findet. „Mit diesem Buch“, leitet er das von Zhang Yimou verfilmte „Rote Kornfeld“ ein, „beschwöre ich die erzürnten Geister der Helden, die durch die grenzenlosen roten Hirsefelder meiner Heimat schweifen. Ich, euer unwürdiger Nachkomme, bin bereit, mir das Herz aus der Brust zu reißen, es in Sojasauce einzulegen, durch den Fleischwolf zu drehen, auf drei Essschälchen zu verteilen und es euch in den Hirsefeldern als Opfergabe darzubringen. Guten Appetit!“

Die früh abgebrochene Schule war wohl der Stachel, sich 1976 der Armee anzuschließen. Sie ermöglichte ihm ein Studium, versorgte ihn selbst mit pädagogischen Aufgaben und schenkte ihm obendrein die Muße, das Handwerk des Schriftstellers zu erlernen. Wie seine Generationsgenossen Yan Lianke („Dem Volke dienen“) oder der im Bostoner Exil lebende Ha Jin („Nanking Requiem“) hat auch also Mo Yan eine soldatische Vergangenheit. Nur dass sie ihn, als er die Armee 1997 verließ, seinem Staat nicht entfremdete.

Auch er hat als Schriftsteller Kämpfe ausgefochten, geriet mit einigen Büchern zeitweise auf den Index und versteht sich doch eher als kritischer Wegbegleiter einer Nation, die ihn darin auch öffentlich akzeptiert. „Schriftsteller“, nimmt er für sich in Anspruch, „sind die Ärzte der Gesellschaft. Unsere Aufgabe ist es, ihre Krankheiten zu finden, auch die der Regierung.“ Diese Distanz schließt die Parteimitgliedschaft nicht aus, ja sie schließt sie für ihn sogar ein. Der französischen Tageszeitung „Libération“ sagte er: „Ich bleibe Mitglied der Partei, und ich will sie nicht verlassen, weil das unnötige Probleme mit sich bringen würde und fette Warum-Schlagzeilen in den Zeitungen.“

Mo Yan gehörte der offiziellen Delegation an, als China 2009 Gastland der Frankfurter Buchmesse war; er verließ mit anderen den Raum, als dissidentische Stimmen den faulen Frieden stören wollten. Solidaritätsadressen an die Marginalisierten, Inhaftierten, Verstoßenen sind seine Sache nicht. Und doch ist es zu einfach, ihn deshalb schon einen Opportunisten zu nennen – nicht nur aus der Perspektive westlicher Selbstgerechtigkeit, die so gut wie nie etwas riskiert. Denn Mo Yan, der zahlreiche Staatspreise gewann, bringt seine einheimischen Leser sehr wohl zum Erfühlen und Durchdenken historischer und heutiger Strukturen. Auf seine Weise ist er ein Autor mit politischer Sprengkraft, und dass er für das Motto zum Roman „Die Knoblauchrevolte“ ungeniert Josef Stalin bemüht, zeugt von einem Referenzsystem, das sich mit unserem nicht so leicht in Einklang bringen lässt. „Romanautoren versuchen immerzu, sich von der Politik zu distanzieren, aber der Roman selbst kreist um die Politik. Romanautoren beschäftigen sich zu sehr mit dem ,Menschenschicksal’, dass sie dazu neigen, ihr eigenes Schicksal aus den Augen zu verlieren. Darin liegt eine Tragödie.“

Mo Yan, den auch jüngere chinesische Autoren schätzen, ist anders als Ma Jian („Red Dust“) kein Rebell, der von einem moralisch haltlos gewordenen China erzählt, das eine wirtschaftliche Überhitzung erlebt. Aber er bringt seinen Lesern gerade in seinem etwas altmodischen Erzählüberschwang nahe, woraus diese neue Welt entstanden ist. Europäer, deren Horizont oft nur von Paris nach Mailand reicht, sollten dieses Angebot nicht ausschlagen.

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