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Kultur: Das Herz vom Herzen des Sommers

Festivalglück: Grüber und Boulez in Aix

Beim Wettlauf um das schönste Festival der Welt hat Aix-en-Provence naturgemäß gute Karten. Salzburg mag mit Nockerln locken und dem sagenhaft inspirativen Salzkammergut-Schnürlregen, in Bayreuth ist’s, aller fränkischen Unauffälligkeit zum Trotz, die Magie, der Wagner auf Schritt und Tritt, Glyndebourne hat seine Picknicks und seinen (Rest-)Snobismus, und Luzern liefert mit Rütli & Rösti rund um den Vierwaldstättersee die ganze Schweiz im Postkartenformat. Und natürlich steckt in jedem dieser kreischenden Klischees auch ein Körnlein Wahrheit. Oder zwei.

In Aix, wenn man so will, kommt alles zusammen. Aix ist – um ein berühmtes Hofmannsthal-Wort abzuwandeln – das Herz vom Herzen des Sommers. Die Pflastersteine, die noch nachts von der Hitze großer Tage erzählen, das Staccato der Gassen, das an verwachsenen, buckeligen Plätzen Atem holt, das Cezanne-Licht dieser Landschaft, ihre herb-süßen Düfte, die Bläue des Himmels und des Meers. Bisweilen ist einem, als fiele der Stadt die ganze malerische Kulisse wie eine Maske vom Gesicht – und offenbarte nichts als Kargheit, Schärfe, Hunger, Erschöpfung. Just dieses Trügerische aber, dieses Venedig-Gefühl ist es, was Musik, was Theater an einem solchen Ort erst erträglich macht und auch: nötig. Die Sinne mögen überborden, überschießen, die Kunst erdet sie, blickt auf den Grund der Dinge, sieht die „Wahrheit“.

Ob die Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle nun den Bergesrücken des Sainte-Victoire erklimmen, um aus 1000 Metern Höhe die Provence unter Mahlers Fünfter erzittern zu lassen, oder ob drei Wochen lang in allen Theatern der Stadt, in Hotels, Ateliers und Kirchen gespielt und gesungen wird – das Erleben ist immer umfassend. Und selbst eine so verdächtig enge, schweißtreibende Lokalität wie das Théâtre du Jeu de Paume wird plötzlich zu einem Raum luftiger Erkenntnis. Die letzte Festival-Premiere jedenfalls, die dort drei Einakter der klassischen Moderne zusammenstrickt, zeigt, wie leicht jedes Schwere sein kann, wie wundersam unangestrengt.

De Fallas „Meister Pedro“, Strawinskys „Reineke Fuchs“ und Schönbergs „Pierrot Lunaire“: Sie alle handeln vom Spiel mit dem Spiel, vom Sein im Schein im Sein im frühen 20. Jahrhundert. Eine Don-Quichotterie als Puppenspiel, eine getanzte Burleske und ein jugendstilschwüles Melodram (mit der hoch expressiven Anja Silja). Klaus Michael Grüber inszeniert diesen Dreiklang als kleines feines Welttheater, und Pierre Boulez – dessen konzentrierte Jugendlichkeit es am Pult des Ensembles intercontemporain einmal mehr zu bestaunen gilt – schafft ihm mit Ausschnitten aus Strawinskys Drei Stücken für Klarinette solo dafür ingeniöse Übergänge. Also lassen sich die Tiere, die Strawinskys Fabel bevölkern, bereits durch De Fallas Kammeroper treiben, das leibhaftige Äffchen, das dem bunten Commedia-Treiben zuschaut, ziert später bei Schönberg eine einsame Säule, und wenn sich am Ende des „Pierrot“ die hintere Wand des stilisierten Selbstgefängnisses hebt (Ausstattung Titina Maselli und Gilles Aillaud), dann treten sie alle noch einmal nach vorn: die Gerupften und die Triumphierenden, die Liebenden und die Toten. Ein starkes, berührendes Bild.

Zweifellos am allerschönsten aber: die Akrobaten in ihren schwarzgoldenen Tierkostümen. Das funkelnde Federkleid des stolzen Hahns, die diamantenen Augen unterm Gehörn des mächtigen Widders, das grinsende Kätzchen mitsamt seiner weißen Pfoten, der dummdreiste, langhalsige Fuchs. Ein Zirkus der Nacht. Ein Schattenspiel aus den Tiefen des abendländischen Gedächtnisses. Kostbar, sehr provenzalisch. Und wie farbenprächtig tönte doch die Musik vor hundert Jahren, wie wenig Scheu legte sie vor dem vermeintlich Volkstümlichen an den Tag! „Alter Duft aus Märchenzeit?“ Ja, gewiss. Und Sehnsucht, jetzt schon, nach dem nächsten Jahr.

Christine Lemke-Matwey

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