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Lupenreiner Demokrat. Ex-Wehrmachtsspion und BND-Gründer Reinhard Gehlen 1977 mit seiner Ehefrau Hertha.

© Imago/Sven Simon

„Das kalte Blut“ von Chris Kraus: Die Tränen der Mörder

Von Auschwitz nach Pullach: Der Filmemacher und Autor Chris Kraus erzählt im Roman „Das kalte Blut“, wie zwei SS-Brüder ihre Biografien reinwaschen.

Nie waren die Plateausohlen höher, die Kragen an den Männerhemden spitzer und die Koteletten buschiger als 1974. Man denke nur an Hans-Georg Schwarzenbeck, Jürgen Grabowski und Paul Breitner, mit denen die deutsche Nationalelf damals Fußballweltmeister wurde. Der Marsch vieler Langhaariger aus der APO hatte in der SPD geendet, einige andere verbreiteten als „Stadtguerilla“ um sich schießend Angst und Schrecken. Sie wurden der Baader-Meinhof-Bande zugerechnet, noch nicht der RAF.

Konstantin Solm, der Held von Chris Kraus’ Großroman „Das kalte Blut“, ist froh, dass er in seinem Münchner Krankenhaus das Zimmer mit einem Hippie teilt, der gerade den Weg zu Buddha entdeckt, und nicht „mit einem dieser Wahnsinnigen, die Frankfurter Kaufhäuser in Brand setzen und gegen Vietnam protestieren“. Solm, von allen bloß Koja genannt, ist zu Beginn der Erzählung Anfang 60 und leidet an einer Kopfverletzung. Möglicherweise hätte ein älterer Herr aber für seinen verstrahlten Zimmergenossen damals eher den zeitgemäßeren Jargon verwendet: Gammler.

Kojas Bruder Hubert, kurz Hub, ist noch ein paar Jahre älter. „Ein Armamputierter und jemand mit einer Kugel im Kopf“, so beschreibt Koja die Konstellation, als er von Hub in der Klinik besucht wird. „Zusammen zählen wir mehr als 130 Jahre, haben vier Beine, drei Arme und eine Frau.“ Die Frau ist tatsächlich besonders, dazu später mehr. Es folgt ein missmutig beginnender, immer kabarettischer werdender Dialog, der ins Stocken gerät, als das Wort Ehre fällt. „Was ist denn unserer Ehre?“ – „Treue.“ „Meine Ehre heißt Treue“ lautete der Wahlspruch der SS. Er stand auf dem Koppelschloss jedes SS-Mannes. So, mit einer Art Seniorenquiz, das Thema eines Buches einzuführen, ist ein wenig plump. Aber es geht noch dröhnender weiter. „Weißt du noch, wie wir mal bei Heydrich im Büro saßen?“, fragt Hub.

Nach Kriegende geht die Karriere weiter

Worauf Chris Kraus sich daranmacht, dieses Weißt-du-noch? auszuerzählen, als Geschichte vom Aufstieg und Fall zweier ungleich-gleicher Brüder aus dem Baltikum, die nach Kriegsbeginn 1939 in hohe Positionen der Vernichtungsmaschinerie der SS aufsteigen und trotzdem nach Kriegsende weiter Karriere machen. Was leider nicht selten vorkam. Außerdem lieben Koja und Hub dieselbe Frau, ihre Adoptivschwester Ev, die – noch eine tollkühne Drehung im Plot – eine Jüdin ist. Kommt ziemlich dicke, das alles. Hätten die Brüder nicht erst einmal ihre Reminiszenzen an einen SS-Unter- oder Oberscharführers austauschen können? Muss es gleich der Holocaust-Organisator Reinhard Heydrich sein, Inkarnation des Bösen schlechthin?

Bekannt geworden ist Chris Kraus mit Filmen. Für seinen in Estland spielenden Historienfilm „Poll“ ließ der Regisseur eine Holzvilla auf Stelzen in die Ostsee bauen. Zuletzt versuchte er mit „Blumen von gestern“ aus Holocaust und Vergangenheitsbewältigung eine Komödie zu machen, was kläglich scheiterte. Auch für sein 1200-seitiges Epos „Das kalte Blut“ hat Kraus wieder tief in seiner Familiengeschichte gewühlt. Sein Großvater und ein Großonkel waren bei der SS und gehörten zu den mörderischen Einsatzgruppen. Parallel zum Roman habe er, schreibt Kraus im Nachwort, an einer Familienchronik gearbeitet.

Koja begleitet Himmler auf einer Rundreise

Hub und Koja fungieren als Gegensatzpaar, ihre Beschreibung folgt dem Schema guter Nationalsozialist /schlechter Nationalsozialist. Hub bekennt sich in Riga bereits zur Partei, als sie dort noch verboten ist, Koja folgt ihm zögernd. Später übernimmt Hub die „Drecksarbeit“, Koja ist für Spionage zuständig, „also für den Spaß“. Hub will Polen „kurieren“ und merkt bald, dass es zu lange dauert, Juden nur zu erschießen. Koja begleitet Himmler auf einer kunsthistorischen Rundreise durch die besetzten Gebiete und darf den „Reichsführer SS“ zeichnen.

„Wir waren Zwerge“, rechtfertigt Koja sich gegenüber seinem Zimmernachbarn, dem Hippie, dem er seine ganze Geschichtete beichtet. Aber geht das, ein guter Mensch bleiben inmitten des Jahrhundertmordens? Koja hält sich für unbescholten, weil er nie das Bewusstsein dafür verloren haben will, am „schlimmsten Verbrechen“ beteiligt zu sein. Behauptet er 1974.

Doch 1942 ist er bei einer Massenhinrichtung in der Nähe von Riga dabei und zieht, als die jüdischen Opfer bereits getroffen in der Grube liegen, seine Luger zum „Gnadenschuss“. Eine Schlüsselszene. Er sieht eine Mutter, „blutgurgelnd“ mit einem Säugling daliegen. „Ich tat etwas, was später zur scherzhaften Überlegung führte, mich wegen Verschwendung von Rüstungsgütern zur Verantwortung zu ziehen: Ich schoss das ganze verdammte Magazin leer.“

Die Figur der schönen Jüdin ist überdrehte Kolportage

Ev, das Mädchen, das 1917 zur Familie Solm gekommen war, nachdem die Tscheka ihre Eltern erschossen hatte, ist die Heilsfigur in dieser aus den Fugen geratenen Welt. Sie entspricht ganz und gar dem Klischee von der schönen Jüdin. Hub und Koja verlieben sich in sie, den einen wird sie heiraten, mit dem anderen ein Kind bekommen. Ev wirkt wie eine Platzhalterin für die Idee der Versöhnung, nicht wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. Sie ist eine Vision ihres Autors. Hier überdreht die Kolportage endgültig. Ev studiert Medizin und wird ausgerechnet Lagerärztin in Auschwitz. Nachdem sie sich geweigert hat, „ihren Patientinnen Holzsplitter und Glas in offene Wunden zu schütten“, wird sie entlassen und versucht, die Mordmaschinerie zu sabotieren. Später geht sie mit Koja nach Israel, um für den Mossad zu arbeiten.

Chris Kraus kann erzählen. Seine Story entwickelt den Sog eines Pageturners, mitunter allerdings mit den Mitteln einer Pulp-Fiction-Fantasie. Am stärksten wird das Buch, wenn es die Nachkriegszeit erreicht. Hub und Koja, die als Auslandsagenten für Heydrichs SD gearbeitet hatten, stranden 1945 in Pullach, wo Reinhard Gehlen, ehemals Leiter der Spionagetruppe Fremde Heere Ost, seine „Org“ aufbaut, aus der später der BND wird.

KÜ steht für Kleineres Übel - die USA

Aus diesem Auffangbecken gehen hohe Funktionsträger von NSDAP und SS mit sauber gewaschenen Biografien hervor. „Angesichts der vorwärtsstampfenden russischen Dampfwalze haben meine engsten Mitarbeiter und ich unserer Erkenntnisse, unsere Akten und Knowhow dem KÜ zur Verfügung gestellt“, brüstet sich Gehlen. KÜ? Steht für Kleineres Übel, genau genommen: für die „Kaugummifresser“. Gehlen ist kein Demokrat, einen Großteil seiner Energie verwendet er auf die Bekämpfung des Verfassungsschutzes und dessen Chefs Otto John.

Kraus besitzt ein Talent dafür, den Korpsgeist von Männerbünden zu schildern. Im Geheimdienst grüßen ehemalige SS-Männer einander beim ersten Wiedertreffen mit ironischem deutschen Gruß, danach können sie weiterarbeiten wie unter Hitler. Kraus erzählt die ungeheuerliche, noch viel zu wenig bekannte Geschichte vom Überleben der Mörder beim BND. Seine Helden Koja und Hub Solm sind perfekt funktionierende Technokraten wie Obersturmbannführer Max Aue in Jonathan Littels Roman „Die Wohlgesinnten“. Sie wollten einfach nur ihren Job erledigen.

Chris Kraus: Das kalte Blut. Roman. Diogenes, Zürich 2017, 1184 S., 32 €.

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