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Kultur: Das Kapital

Alle reden darüber, aber den Deutschen fehlt es daran: Was ist Bildung?

Am 18. September ist Bundestagswahl. Es geht um die großen Zukunftsfragen. Zum Auftakt unserer Serie: Bildung.

Über Kultur wird in Deutschland, ob mit Friedrich Nietzsche schwer leidend oder Friedrich Merz light leitend, immer wieder gestritten. Bildung dagegen finden alle erst mal toll. Bildung sei das „Kapital der Zukunft“, zumal im Übergang von der alten Industriegesellschaft zur neuen Wissensgesellschaft. Bildung, mehr Bildung muss her und rein: schon in unsere Kindsköpfe. Darin sind sich alle Parteien einig. Die ersten Pisa-Studien waren ein Schock, also sollen die Schulen besser werden. Wenn die Inder nicht in das Entwicklungsland Deutschland wollen, dann müssen wir selber mehr Computer- und Softwarespezialisten ausbilden; und bevor in den Geistes- und Naturwissenschaften die letzten Spitzendenker auswandern, braucht es mehr Elite- universitäten. So tönt’s. Während die real existierenden Schulen und Unis unter Mittelkürzungen stöhnen.

Aber Bildung, mehr Bildung soll sein. Sagen alle Politiker, im Prinzip. Im 39-seitigen Wahlprogramm der CDU/CSU („Deutschlands Chance nutzen“), wo zur Kultur auf der 33. Seite im fünften Kapitel nicht viel mehr steht als „Kunst und Kultur sind untrennbar mit der Identität der Deutschen verbunden“, findet sich das Stichwort „Bildung und Erziehung“ immerhin schon zehn Seiten früher: nach „Landwirtschaft und Verbraucherschutz“ – als Ergänzung zum Motto „Zukunft für Familien“. Hier lautet der erste Satz: „Während viele Mitbürger in Deutschland mit überwältigender Mehrheit die Gründung einer eigenen Familie als persönliches Lebensziel ansehen, verwirklichen immer weniger Menschen den bestehenden Kinderwunsch.“ Schuld sei die Bundesregierung, die „hat den Stellenwert von Ehe und Familie in den letzten Jahren zunehmend relativiert“.

Viele mit überwältigender Mehrheit. Was mit dieser Stilblüte beginnt, verbindet „Lebenssinn, Geborgenheit und Glück“ dann auch irgendwie mit „gleichen Bildungschancen für alle Kinder“, setzt aber zugleich auf mehr Hochbegabten-Förderung („Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands hängt nicht zuletzt von seinen Eliten ab“). Vor allem aber gehe es in Familie und Schule um eine „klare Wertorientierung“. Was das heißt? Es bedeute, dass junge Menschen „auf die Frage nach Gott und nach verbindlichen ethischen Maßstäben Antworten finden können“, insbesondere im „konfessionellen Religionsunterricht“. So viel zur Bildung. Von Universitäten oder der Wissenschaft ist dabei gar nicht erst die Rede.

Überhaupt sind Wahlprogramme gerade in den „weichen“ Bereichen nicht allzu ernst zu nehmen. Das Manifest der SPD betont zwar schon auf der zweiten von 20 Seiten: „Wir haben die Ausgaben für Bildung und Forschung um 37,5 % gesteigert. Bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung liegt Deutschland heute mit 2,5% des Bruttoinlandsprodukts in der Spitzengruppe der großen Industrieländer.“ Allerdings betrifft die Gesamtsumme von rund 90 Milliarden Euro am wenigsten den Bund, sondern die Bildungsausgaben auch der Länder und Kommunen; und obwohl die Bundeszentrale sogar von über 4 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt spricht, rangiere Deutschland damit hinter den skandinavischen Staaten sowie den USA, Frankreich, Österreich, der Schweiz oder selbst Polen und Mexiko.

Ohnehin nutzen alle Statistiken nichts, wenn morgen zum Beispiel in der Hauptstadt Berlin zum Schulbeginn wieder Lehrer fehlen oder dank babylonischer Sprachzersplitterung in vielen Klassen überfordert sein werden. Dass jegliche Bildung freilich Denken, Sprechen und Verstehen voraussetzt, ist klar. Eher unklar aber ist, was inhaltlich überhaupt gedacht, gesprochen und verstanden werden soll. Zumal die Bildungs-Problematik schon in den Köpfen der Erwachsenen, ja auch beim politischen Kopf beginnt. Als Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit einmal im Fernsehen gefragt wurde, wann der Zweite Weltkrieg anfing, wie man das Wort Rhythmus schreibt oder wie viel, ohne Taschenrechner, „3 + 8 x 2“ sei, konnte der Regierungschef und Volljurist keine der weit unter Abiturniveau liegenden Fragen richtig beantworten.

Da muss man sich schon hinlegen – und mal weiter fragen: Was ist uns Bildung? Und wer ist hier gebildet? Kurz bevor es in der alten, verjüngten Bundesrepublik mit den 68er-Reformen dem Bildungsbürger an den Talarkragen gehen sollte, hatte der Pädagoge und Philosoph Georg Picht bereits in einem legendären Buch „Die deutsche Bildungskatastrophe“ ausgerufen. Das war 1964 und hatte Konsequenzen. Ein Jahr später wurde der Deutsche Bildungsrat gegründet, es folgten trotz föderaler Bildungshoheit Hochschulrahmengesetze, der Prozentsatz von Arbeiterkindern an Oberschulen und Universitäten wurde gesteigert, die Zahl der Gesamtschulen erhöht, allerdings auch der Numerus clausus verschärft und die Zentrale Vergabe der Studienplätze eingeführt. Das Wort vom „Bildungsnotstand“ blieb dennoch aktuell. Bis heute.

Nun haben die Jammerschreie in deutschen Debatten immer etwas von einem Dauerton. Ein geistesgeschichtlich universell gebildeter Humanist wie Walter Jens erblickte den Kultur- und Bildungsverfall schon im Fernsehen der 70er/80er-Jahre, worauf der geistesgeschichtlich universell gebildete Philosoph Odo Marquard mal bemerkte, die alten Römer hatten als Warnschnatterer die kapitolinischen Gänse, wir heute haben die „kapitolinischen Jense“.

Schon diesen Witz indes werden viele Zeitgenossen nur noch oberflächlich verstehen. So wenig sie auch (einst) umgangssprachliche Begriffe wie ein Danaer-Geschenk, einen Pyrrhus-Sieg, ein Paris-Urteil, ein Damokles-Schwert, ein Kainsmal, Menetekel oder die Hiobsbotschaft noch wirklich bibelfest oder historisch und mythologisch bewandert sich selbst und anderen erklären könnten. Als ein Berliner Rundfunksender vorm Karfreitag 2005 eine Umfrage nach dem Grund des Osterfestes machte, kicherten viele junge Leute, das mit dem Hasen sei’s ja nicht, also wohl eher „was Kirchliches“. Das mag einen nicht als religiöses Unwissen erschüttern; beunruhigender ist, dass die kulturelle Grundbildungslücke ein Indiz sein kann, dass womöglich auch jegliche eigene (weltliche) Lebensvergewisserung im Kopf verbaut ist. Kulturkritiker rufen da sogleich den allgemeinen Kulturverfall auf, die angebliche Analphabetisierung durch die elektronischen Medien, das Ende des Gutenbergzeitalters.

Da ist was dran. Und doch boomen zur gleichen Zeit Museen von MoMa bis Goya, immer dickere Bücher und gar fremdsprachige Originalausgaben werden Bestseller, es gibt die neue Sehnsucht nach dem Kanon in der Literatur, im Film und in der Musik; die Revolution der moderneren Physik, die Hirnforschung, die Nano-Wissenschaften treiben längst auch die Nichteingeweihten um. Alles nur Scheinkram? Und: Sind die Leiden des jungen Potter als Bildungsroman heute weniger wert als einstmals die Leiden des jungen Werthers? Analphabeten jedenfalls gab es zu Goethes Zeiten einige mehr. Freilich ist der Preis der Demokratisierung von Bildung auch eine nivellierende Breitenwirkung. Der Fehler der Nach-68er-Bildungspolitik war als vulgärmarxistisches, teils popkulturelles Missverständnis der gezielte Affront gegen alle Höhen und Tiefen, neben der Verteufelung von Fleiß, Disziplin und anderer lernnotwendiger Tugenden.

Statt sich dank der Entmuffung durch die Poprevolte souverän zwischen E- und U-Kultur, zwischen Comics und Kant zu bewegen, hat sich eine auch ins politisch konservative Lager übergreifende Halbbildung durchgesetzt. Sie verrät sich durch Verblasenheit oder jenen – Sozioökos und Neolibs vereinenden – technokratischen Jargon, der Bildung als „Humankapital“ definiert. Und im Deutschunterricht, ob Dichtung oder Werbung, bloß noch Textsorten kennt. Natürlich kommt bei solcher Kriterienlosigkeit irgendwann das aktuelle Wertevakuum ins Spiel. Das Schöne, Gute, Wahre aber prallt ab sowohl an Wohlstandsverwahrlosung wie Armutsverwahrlosung. An beiden Seiten des Materialismus. Gewiss gibt es dazu auch einen Zusammenklang von Verrohung und Verblödung. Das heißt jedoch nicht, dass naives Unwissen herzlos macht. Und schon gar nicht, dass geistige Bildung vor Inhumanität schützt. Die Barbarei ihrer bildungsbürgerlichen Funktionseliten haben ja alle modernen Diktaturen demonstriert. Das war das Desaster aller abendländischen Kultur- und Bildungsideen.

Werte haben dennoch mit Wissen zu tun. Auch mit dem, was poetisch gesagt, man mit dem Herzen weiß. Kein Mensch wird indes von Babel bis Biotech noch das lernen und memorieren können, was Dietrich Schwanitz in seinem 700-seitigen Bestseller „Bildung“ vor einigen Jahren zusammengetragen hat – unter dem Motto „Alles, was man wissen muss“. Tatsächlich sind wir gleich weit entfernt: von Rousseaus Paradies der Einfachheit wie von einer die alten Humanwissenschaften und die neuen Naturwissenschaften zusammenführenden Enzyklopädie.

Aber auch im Zeitalter der Physik bedarf es noch immer der Metaphysik. Geist bedeutet nicht Google, nicht nur Information ohne historische, ästhetische, ethische Erfahrung. „Zukunft braucht Herkunft“, wie der Philosoph Odo Marquard sagt. Bildung hat da eine andere Dimension als nur das curriculare „Fitmachen für das Berufsleben“. Auch mit Pisa wird es in Deutschland erst was werden, wenn zumindest angestrebt wird, was Wilhelm von Humboldt vor 200 Jahren formulierte: „die Verknüpfung des Ichs mit der Welt“. Philosophieren heißt nach Montaigne, sterben lernen. Bildung aber heißt, leben lernen. Das zuerst.

Also fängt Bildung mit der Erziehung an. Wenn hier die Eltern versagen, ist es für die Schule (und die Kinder) oft schon zu spät. Die falsche Lehre aus Pisa: Nur technokratisch an Lehrplänen zu drehen, solange unsere Lehrer klagen, dass sie bei immer mehr Kindern die „primären Erziehungsaufgaben“ mitübernehmen müssten. Was sie nicht können. Auch die erhoffte Werte-Bildung gründet noch vor jedem Religions- oder Ethikunterricht in der frühesten Wertschätzung, in der als Kind erfahrenen Zuneigung. Der italienische Schriftsteller Cesare Pavese hat es von allen wohl am schönsten gesagt: „Mit dem Bedürfnis, die anderen zu verstehen, die anderen zu lieben – übrigens der einzige Weg, sich selbst zu verstehen und zu lieben –, damit beginnt Bildung.“

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