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Kultur: Das Lachen der Lämmer

Salzburger Festspiele: Dimiter Gotscheff übermalt Molières „Tartuffe“

Der berühmteste reiche Salzburger, Herr Jedermann, hält nichts von christlichen Empfehlungen wie „Geben ist seliger denn Nehmen“. Erst in seiner letzten Stunde, wo’s ihn nichts kostet als das Leben, lässt er los. Da hätte er sich ein Beispiel nehmen können an Herrn Orgon aus Paris, der alles freiwillig hergibt: Besitz, Ehefrau, kritische Vernunft. Pech nur, dass er einem falschen Prediger aufsitzt.

Hofmannsthals „Jedermann“ und Molières „Tartuffe“ sind ideale Salzburger Stücke, beide Balsam für die angereisten Gutbetuchten. Zumindest scheint es so: Die christliche Moralität verheißt ihnen das Ticket zum Himmel, die schwarze Komödie versichert ihnen: So blöd wie Orgon sind wir noch lange nicht. Und doch fügte es die Salzburger Dramaturgie erst in diesem Sommer, dass es zur Paarung „Tartuffe“ /„Jedermann“ kam. Und Schauspielchef Martin Kusej holte für den ersten „Tartuffe“ der Festspielgeschichte einen Regisseur, dem wie ihm selbst Komödie und Tragödie eins ist: Dimiter Gotscheff. „Ich bin ein Agrararbeiter“, teilte der Bulgare den Salzburgern vorab mit und: „Kunst kommt von Exzess, von der Notwendigkeit, sich zu zersprengen.“

Ein elegantes böses Divertimento durfte also bei dieser Koproduktion mit dem Hamburger Thalia-Theater niemand erwarten in der Salinenhalle draußen in Hallein. Was aber war es, das da in der weit aufgerissenen leeren schwarzen Bühnenhöhle (Katrin Brack) 120 Minuten lang detonierte? Ein Traktat über die Agonie des Großbürgertums, über Arm und Reich, über Fundamentalismus und Terror, über die Chancenlosigkeit der Vernunft. Es herrscht die Logik der Körper, die Choreografie der Gewalt. Kürzer gesagt: Molière wird durch den Heiner-Müller-Wolf gedreht.

Erster Auftritt: Die Zofe Dorine (Judith Rosmair) kommt fluchend und keifend mit schwarzer Anna-Netrebko-Perücke und Plastikslippern herangeschlurft und stellt in Bulgaro-Deutsch die Verhältnisse klar: „Mein Boss Orgon hat ein Schloss, er ist okay, weil er mir hilft bei Antrag für österreichische Staatsbürgerschaft.“ Das gibt einen Riesenlacher (Netrebko!), und gleich nimmt Dorine die Zuschauer kennerisch ins Visier: „So schöne Zähne! So schöne Schmuck!“ Den Parasiten Tartuffe, der sich bei Orgons eingenistet hat, kann sie nur hassen – „weil wenn er Boss, er mich als Erste feuert.“

Jetzt lernen wir die erschöpfte großbürgerliche Familie kennen. Wie aus Pasolini- oder Chabrol-Filmen entsprungen schreitet sie unter scheppernder LullyFanfare heran – in der Mitte der verzückte blonde Orgon (Peter Jordan) mit seiner verzickten blonden Elmire im Goldfummel (Paula Dombrowski) – und formiert sich zum Tableau. Wie zeigt man die komplette Leere und Aussichtslosigkeit dieser Herrschaften? Gotscheff hat die Brachialidee: Er lässt aus allen Rohren geschlagene fünf Minuten lang Konfetti und Wurfschlangen feuern, bis der gesamte Boden bedeckt ist – ein grandioser, durchaus Salzburg-gemäßer Effekt.

Nun ist die Bühne bereitet für den Erlöser Tartuffe in Gestalt Norman Hackers. Unverkniffen, glatt rasiert geht er seine Aufgabe in braunem Schlabberanzug und T-Shirt an. Ein Sektenguru der letzten Tage, predigt er aus allen Lautsprechern, während ein Chor „Oh happy day“ schmettert. Und schon wirft sich Orgon ins Jesus-Gewand – weißes Laken, Sandalen, Ölzweig – und säuselt jede Widerrede mit einem „Ich tue, was der Himmel will“ nieder. Der will zum Beispiel, dass Tartuffe Orgons Tochter Mariane (hysterische Tussi: Anna Blomeier) heiratet, die schon dem Weichei Valère (Ole Lagerpusch) versprochen war. Die Familie ist bestürzt, außer Orgons Mutter Pernelle (Angelika Thomas): Sie segelt mit Kruzifix und fanatisch frommen Arien dazwischen, bis man sie vertreibt.

Für Statistiker kann ein Rekord vermeldet werden: 25 Minuten sind vorbei, und bisher fiel kein einziges Wort von Molière. Kann das jetzt noch was werden mit der Charakterkomödie, den herrlichen Alexandrinern, den kristallinen Dialogen, der sorgfältig komponierten Intrige, mit Orgons stufenweiser Desillusionierung? Zwar nennt das Programm sogar eine Übersetzung, die von Benno Besson und Hartmut Lange (1963 für Bessons Inszenierung am Deutschen Theater entstanden, bei der Gotscheff hospitierte). Doch immer wieder wuchern Eigenkreationen (Dorine zu Mariane und Valère: „Ihr seid ja zu blöd zum Ficken!“) und Müller-Texte (aus „Quartett“ und „Hamletmaschine“) dazwischen. Die Entscheidung zur Molière- „Übermalung“ ist längst gefallen.

Wo nicht der Diskurs der Vernunft die Körper regiert, sondern das „Fleisch, das seinen eigenen Geist hat“ (Müller), macht besonders Orgons Schwager Cléante (Helmut Moshammer) keinen Stich. Der berüchtigte Langweiler, die Fanfare der Vernunft, der bei Molière das Schlusswort hat und nicht nur Orgon, sondern sogar Tartuffe in die Gesellschaft der Vernünftigen zurückholt, ist hier bloß ein neurotischer Klemmi. Dagegen entdeckt der Regisseur zwischen Elmire und Tartuffe (mit Müllers „Quartett“) eine nie gesehene Geschichte: In eiszeitlicher Verlorenheit halten sie zweimal die Nähe unendlich lange aus – ohne sich zu berühren. Und Gotscheff gestattet Elmire den Ausstieg aus der Rolle der Vernünftigen: Über die Zuschauerreihen hinweg klettert sie – „Nieder mit dem Glück der Unterwerfung!“ und „Es lebe der Hass!“ – ins Freie.

Nein, mit der Wiederherstellung der Harmonie hat es der Tragiker Gotscheff nicht. Dann wär’s ja „nur“ eine Komödie gewesen. Sein Tartuffe muss sich als Terrorist outen, als einer, „der sein Stück vom Kuchen will“. Mit dem Klappmesser schneidet er Oma Pernelle, die immer noch an ihn glaubt, die Kehle durch. Da bricht der Rest der Familie in ein trauriges Bäh aus. Tartuffe setzt noch eins drauf: „Da, wo ich herkomme, nennt man es das Lachen der Lämmer.“ Riesenapplaus.

Andres Müry

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