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Kultur: Das Leben als Boxkampf

Kubrick beweist schon als Fotograf ein verblüffendes erzählerisches Talentchs Ein Tag im Leben eines Boxers: Alle Konzentration ist auf den Abend gerichtet, an dem der Kampf stattfinden wird. Der Boxer steht auf, beginnt den Morgen mit Gymnastik, frühstückt, repariert seinem Sohn das Spielzeugschiff, geht mit der Freundin rudern, sonnt sich am Strand von Staten Island, hört dabei Radio und döst kurz ein, fährt zur Boxhalle, wird auf die Waage gestellt, vom Amtsarzt gemustert, lässt die letzten Ratschläge seines Trainers über sich ergehen, hockt in seiner Kabine und wartet, wartet, wartet.

Kubrick beweist schon als Fotograf ein verblüffendes erzählerisches Talentchs

Ein Tag im Leben eines Boxers: Alle Konzentration ist auf den Abend gerichtet, an dem der Kampf stattfinden wird. Der Boxer steht auf, beginnt den Morgen mit Gymnastik, frühstückt, repariert seinem Sohn das Spielzeugschiff, geht mit der Freundin rudern, sonnt sich am Strand von Staten Island, hört dabei Radio und döst kurz ein, fährt zur Boxhalle, wird auf die Waage gestellt, vom Amtsarzt gemustert, lässt die letzten Ratschläge seines Trainers über sich ergehen, hockt in seiner Kabine und wartet, wartet, wartet. Und dann ertönt der Gong zur ersten Runde.

"Alle Athleten altern schnell, aber keiner so schnell und so sichtbar wie ein Boxer", hat Joyce Carol Oates geschrieben. Auf den Fotos, die Stanley Kubrick 1949 von dem Boxchampion Walter Cartier gemacht hat, kann man dem Altern sozusagen zuschauen. Vierundzwanzig Stunden genügen, um alle Jungenhaftigkeit aus den Zügen des Boxers verschwinden zu lassen. Am Morgen ist er noch ein Halbstarker mit etwas zu breiten Schultern und einer etwas zu platten Nase, am Abend verwandelt er sich in eine Kampfmaschine, die an der Schläfe blutet und am ganzen Körper schwitzt. Wie ein Raubtier läuft Cartier schließlich an den Seilen des Boxrings auf und ab, während der Ringrichter seinen K.o.-geschlagenen Gegner auszählt. Noch immer ist sein Blick, der den ganzen Tag über der Kamera auswich, in eine imaginäre Ferne, womöglich ins eigene Ich gerichtet: Eyes Wide Shut.

Gestorben ist Stanley Kubrick dieses Jahr als weltberühmter Filmregisseur. Angefangen hat er als Fotoreporter. In der Kieler Kunsthalle ist jetzt zum ersten Mal in Deutschland dieser andere Kubrick zu entdecken: Wir sehen rund einhundert Bilder, die er für das Magazin "Look" aufgenommen hat. Ein Foto, das er von einem Zeitungsverkäufer mit der Schlagzeile vom Tod des Präsidenten Roosevelt machte, verschaffte dem siebzehnjährigen High-School-Absolventen eine Festanstellung bei der aufstrebenden New Yorker Illustrierten. Er blieb sechs Jahre und fotografierte in dieser Zeit gemäß dem Magazin-Motto - "Leben sehen; die Welt sehen; Augenzeuge von großen Ereignissen sein; das Gesicht der Armen und die Gesten der Stolzen betrachten" - quer durch die Genres und Gesellschaftsschichten: Prominente und Arbeitslose, Sozialreportagen und Klatschgeschichten, Erhabenes und Banales.

In Chicago guckt er den Reichen in die Töpfe, wenn ihnen in einem Luxusrestaurant Filetsteaks und Törtchen serviert werden, entdeckt aber auch den abgemagerten Alten, der in einer Geröllhalde hockt und sein trockenes Brot kaut.

In der New Yorker U-Bahn interessiert er sich für die eingeschlafenen Sekretärinnen auf den Bänken, für das Ballett der Beine und das Gewusel an den überfüllten Ausgängen. Im Zirkus ist er vom teilnahmslosen Trott der Tiere, von den Sensationen der Schwerelosigkeit fasziniert. George Grosz platziert er rittlings auf einem Stuhl hockend mitten auf der Fifth Avenue als Stoiker im Großstadtgetriebe. Und Montgomery Clift zeigt er mit aufgeplatztem T-Shirt und Milchglas am Küchentisch: Denn sie wissen nicht, was sie frühstücken sollen.

Kubrick beweist schon als Fotograf ein verblüffendes erzählerisches Talent, sein Blick ist präzis und stets auf das Wesentliche gerichtet. Die meisten Bilder erscheinen in Serienform: als Fotoreportagen über den ersten Schultag oder die Columbia-Universität, auch schon mal als alberner Fotokrimi. Vom Film noir ist Kubrick genauso inspiriert wie von der sowjetischen Revolutionsfotografie. Ihn gleich auf eine Stufe mit Walker Evans und Henri Cartier-Bresson zu stellen, wie der Katalog es tut, greift zu hoch: Hier ist einer erst dabei, seinen Stil zu finden. Den Magazin-Job hängte Kubrick schließlich an den Nagel, um seinen ersten Kurzfilm - die Dokumentation "Day of the Fight" - zu drehen. Thema: ein Tag im Leben des Boxchampions Walter Cartier.Kunsthalle Kiel, bis 29. August. Vom 4. September bis 10. Oktober im Kölner Kunstverein. Der Katalog (231 Seiten), erschienen im Verlag Schnell & Steiner, kostet in der Ausstellung 39,-, im Buchhandel 68 DM © 1999

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