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Kultur: Das Leben – ein Schaum

Chamäleon, Luftgeist, Mediengenie: Heute feiert Hans Magnus Enzensberger seinen 75. Geburtstag

An seinem 30. Geburtstag schäumte Hans Magnus Enzensberger: „ich bin geblendet worden, schaum in den augen,/brüllend vor wehmut, ohne den himmel zu sehen,/am schwarzen freitag, heute vor dreißig jahren.“ Was Enzensberger unter dem Namen „Schaum“ 1959 vor der versammelten Gruppe 47 auf Schloss Elmau vortrug, war weniger ein Gedicht im herkömmlichen Sinne als ein Zornesschrei. „woher die möblierten herren, die unter die teppiche kriechen /und das geflammte furnier und die stellenangebote zerbeißen?/woher? und wohin mit ihnen? wohin mit den witwen?/wohin mit den kommunisten? wohin mit dem/was da sagt hölderlin und meint himmler, mit dem,/was da raketen und raten abstottert, was da filmt/ und vögelt und fusioniert?“ Das war eine poetische Kampfansage an ein Land, in dem die Bigotterien und Lebenslügen blühten und die Nazi-Vergangenheit vom Konsum überklebt wurde.

Und „Schaum“ ist – neben all dem – Enzensbergers erstes Stichwort, das seinen Siegeszug antritt und Einzug in die kritische „Landessprache“ hält. Der Religionsphilosoph Klaus Heinrich, der als charismatischer Lehrer später die Studenten im Henry Ford-Bau der Freien Universität begeisterte, griff auf die Schaum-Metapher des „jungen Lyrikers“ zurück, um die „Schwierigkeit“ der Nachkriegsgeneration zu erklären, „nein zu sagen“. Wie für Enzensberger war auch für Heinrich Schaum eine hässlich nivellierende Metapher. „‚Schaum’ ist trübe.“

Heute, zu Enzensbergers 75. Geburtstag, ist der große Schaumverächter fast vergessen. Umso präsenter ist der gewiefte Medienintellektuelle. Gerade hat Enzensberger wieder alle seine Künste aufscheinen lassen und in einer konzertierten Aktion, bei der vom Spiegel bis zum alten „Nullmedium“ Fernsehen alle intellektuellen Instanzen, die einmal auf der Liste seines Argwohns standen, eingespannt waren, seinen Autor Alexander von Humboldt zum Bestseller promoviert. Enzensbergers sagenhafte Karriere vom gefeierten zornigen Dichter der frühen Republik zum spiritus rector der heutigen Bewusstseins-Industrie ist beeindruckend. Immer die berühmte Nasenspitze dem kritischen Mainstream vorweg, hat er Position bezogen.

Als die alte Bundesrepublik, die Neckermann-Welt und ihre repräsentative Gestalt, der Kleinbürger, noch Gegenstand linken Dauerspottes waren, da sprang Enzensberger ihnen schon zur Seite, verteidigte die „Mittelmäßigkeit“ der Republik und lobte den Kleinbürger für seinen unerschöpflichen kreativen Selbsthass. All die Typen, die früher seinem Schaum-Verdikt verfielen, hat er Zug um Zug rehabilitiert. Nie trug die politische Revision in Deutschland ein so charmantes Antlitz.

Heute ist der Schaum längst keine „trübe“ Metapher mehr. Vielmehr hat sich der Wortsinn in den letzten 50 Jahren gedreht. Was einst das Schmähwort eines jungen zornigen Dichters war, ist heute eine allgemeine intellektuelle Metapher des Überschwangs. An der Konjunktur, die der Schaum genießt, lässt sich etwas über den Zustand des Landes ablesen. So möchte der Philosoph Peter Sloterdijk im dritten Band seiner „Sphärologie“ nicht weniger leisten als „Schaumdeutung“. Sloterdijk ist dabei ein unbedingter Sympathisant des Schaums; das Ressentiment gegen das „Schaumige“ verrät für ihn nur alten Dünkel. „Wo man Verluste an Form beklagte“, heißt es in „Schäume“, „stellen Gewinne an Beweglichkeit sich ein“.

Nun kann man sicher begrüßen, dass das deutsche Ernstdenken mit der Zeit ein wenig aufgelockert wurde. Anstatt immer nur konkret die Lage zu bestimmen, möchte der substanzlose Geist heute auch einmal Blasen werfen. Was am neumodischen Schaumdenken allerdings aufreizt, ist die Mission, mit der es verkündet wird. Eine der letzten Lektionen, die die Jüngeren in der späten Bundesrepublik lernen konnten, war, dass es kein „Außerhalb“ der Gesellschaft gebe. Heute tritt das spielerische intellektuelle Lavieren in den Grenzen der Gesellschaft, allzu oft als letzte Gesinnung auf. Es wimmelt von Erziehern, die uns Prinzipienlosigkeit als zivilisatorische Leistung verkaufen wollen.

Ein kurioses Schauspiel wird momentan den Jüngeren geboten. Die sprachmächtige Nachkriegsgeneration, eine Generation von Meinungsmachern, die bisher alle Streitereien (wie zuletzt Habermas gegen Enzensberger in der Irak-Frage) unter sich ausmachte, sehnt sich zurück in den Zustand intellektueller Unschuld: der Meinungslosigkeit.

Sogar der alte Geschichtssoldat Martin Walser möchte fortan keine Meinung mehr haben. „Mehr Erfahrung als auf einen Standpunkt geht“, ließ er sein alter ego Herbert Meßmer unlängst mitteilen, „macht man schnell“. Und natürlich bekennt auch Enzensberger, der diesen Trend zum intellektuellen Asketentum vorwegnahm, sich fröhlich zur eigenen Entfremdung. „Manchmal weiß ich selber nicht mehr, ob ich einer von den einen bin oder ein anderer. Am liebsten wäre ich ich selber, aber das ist natürlich unmöglich.“

Wie gequält und verzweifelt hören sich solche Selbstauskünfte dagegen bei den jungen Dichtern an. „Ich wusste nicht, was er wollte,“ schreibt Judith Hermann in ihren Gespenstergeschichten, „und was ich wollte, wusste ich auch nicht“. Die Alten sind des ewigen Meinens übersatt, die Jungen bemühen sich krampfhaft um eine Meinung.

Heute ist die „Marke HME“ (Norbert Bolz) – der ideologische Unernst und das frivole Bekenntnis zur Meinungslosigkeit – in intellektuellen Kreisen ein Massenprodukt. Zwar soll es einmal eine Zeit gegeben haben, in dem der Name des Feuilleton-Herausgebers der FAZ Programm, der eigene Standpunkt fest und heilig war, doch das ist lange vorbei. Heute will jeder altbundesrepublikanische Schwerenöter ein HME-Luftwesen sein. Das Zick-Zack-Denken, der spielerische Nonkonformismus ist die neue Orthodoxie der Zeit. Wenn Enzensberger weiter wie bisher Mehrwert durch Originalität und Differenz gewinnen will, wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als auf die alte Orthodoxie zurückzugreifen. Wo alle ideologisch abrüsten, muss er dogmatisch aufrüsten.

In den Fünfzigern hatte Enzensberger über das romantische Genie Clemens Brentano promoviert. Mit dem frühen Brentano, dem „Kobold und Bürgerschreck“, wie er ihn im Vorwort seiner Studie nannte, verbindet Enzensberger das artistische Selbstverständnis; auch die philologische Sammelleidenschaft des Romantikers („Des Knaben Wunderhorn“) ist ihm nicht fremd. 1817 ließ der Skandalautor Brentano sich in der Berliner Hedwigs-Kathedrale zum katholischen Glauben bekehren. Fortan sah er in seinem Frühwerk nicht mehr als „geschminkte, duftende Toilettensünden unchristlicher Jugend“. Er schrieb ein mehrtausendseitiges Werk über das „Leben der heiligen Jungfrau Maria“ und endete in den Armen einer Nonne.

Steht auch Enzensberger vor einem romantischen Rückfall? Dass vor allem die Gedichtsammlungen der letzten zehn Jahre, vom „Kiosk“ bis zur „Geschichte der Wolken“ immer wieder ins Metaphysische davonschweben, ist augenfällig. In den Sechzigern sah Enzensberger noch kein Entrinnen aus der allmächtigen Schaumwelt – „dagegen hilft kein himmlischer Blitz!“ Jedenfalls ist der irdische Vorbote der Suche nach Transzendenz, die alte Kulturkritik, in Enzensbergers Essayistik zurückgekehrt.

Schon hat er den Kleinbürgern den Frieden wieder aufgekündigt. Wie in seinen frühesten Gedichten wettert er nun wieder gegen Lärmterror und die ästhetische Vormacht der Jogginghosenträger. „Wer von Kindesbeinen an stumpfsinnig wie ein Rockkonzert durch das Leben gestolpert ist, nie wird der wieder zu gehen lernen.“ Längst ist Enzensberger dabei, die negative Theologie seines Frühwerks zu positivieren. Wir nehmen Enzensbergers neue Kulturkritik zum Anzeichen, dass seine endgültige Konversion unmittelbar bevorsteht.

Zum Faschingsbeginn des Jahres 1929 in Kaufbeuren im Allgäu geboren. Aufgewachsen in Nürnberg. Lebt heute als Schriftsteller, Herausgeber der Anderen Bibliothek und Übersetzer in München .Studium der Germanistik und Philosophie. In den ersten Jahren Rundfunkredakteur, Verlagslektor. Debütiert 1957 mit dem Lyrikband verteidigung der wölfe . Wird in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre zur Leitfigur der Studentenbewegung – als Herausgeber des „Kursbuchs“ (1965 - 1975) und politischer „Agitationsmodelle“ wie des Textes „Das Verhör von Habana“ (1970). Rückkehr zu konventionelleren literarischen Formen mit epischen Gesängen wie Der Untergang der Titanic (1980) oder der Reportage-

sammlung „Ach, Europa!“ (1987).

Zum Geburtstag sind im Frankfurter Suhrkamp Verlag „ Dialoge zwischen Unsterblichen, Lebendigen und Toten“ (216 S., 16,80 €) erschienen und in der Berliner Friedenauer Presse „Ein Philosophenstreit über die Erziehung und andere Gegenstände“ (24 Seiten, 9,50 €).

Stephan Schlak

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