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Kultur: Das Leben in zwölf Sekunden

Volker Gerling dreht Filme fürs Daumenkino. Mit seiner Wanderausstellung tourte er von Berlin nach Basel – zu Fuß. Jetzt präsentiert der Künstler die Ergebnisse seiner Reise

Eine Frau sitzt im Café, vor ihr steht ein Glas Wein. Um ihre Lippen spielt ein Lächeln, sie posiert für die Kamera. Dann fangen die Bilder an zu laufen. Erst langsam, dann immer schneller. Dieselbe Frau, die eben noch ihr Fotolächeln im Gesicht trug, wirkt plötzlich unsicher. Sie weicht zurück, wischt eine Geste durch die Luft und nimmt schließlich eine andere Position ein. Aus.

Wir sind in einem Film von Volker Gerling. Das Kino ist ein gebundener Stapel Fotopapier, der Projektor unser Daumen. Daumenkinos kennt man aus der Kindheit als einen lustigen optischen Trick. „Das Daumenkino ist etwas Brutales“, sagt Volker Gerling. Er ist Filmemacher, Kinobetreiber und Filmverleiher in einer Person. Das Drehbuch allerdings schreibt nicht er. Das Drehbuch schreibt die Wirklichkeit.

Gerling nimmt seine Arbeit sehr ernst. Seine Filme spielen nicht mit Effekten. Oft sind es Porträts von Menschen, immer sind sie in strengem Schwarz-weiß gefilmt. „Wenn ich jemanden fürs Daumenkino portraitiere, so weiß er vorher fast nie, was ich vorhabe.“ Dieses Prinzip hat sich der Künstler selbst auferlegt. Auch die Frau im Café wusste vorher nicht, was sie erwartet. Ausgemacht war ein Porträtfoto. Als Volker Gerling aber nach dem ersten Foto noch eines schoss, und dann immer mehr, wurde die Frau unsicher. Gerling ist ein netter, ruhiger Mann. Als Fotograf ist er gnadenlos. Den Auslöser seiner Nikon F3 hält er gedrückt, drei Bilder pro Sekunde schießt der Motor. Erst wenn alle 36 Bilder des Kleinbildfilms verschossen sind, lässt Gerling von seinem Opfer ab. Zwölf Sekunden sind dann vergangen.

In diesem Zeitraum, der dem Portraitierten unendlich lange vorkommen kann, möchte er das zeigen, was einer Fotografie entgeht. Im Metrum der regelmäßigen Schläge des Kameraverschlusses muss der Porträtierte seinen eigenen Rhythmus finden. Manche lächeln dann, andere versteinern. Wieder andere wehren sich. In einem Zyklus zieht ein Opfer spontan selbst eine Kamera aus der Jackentasche und schießt zurück. „Es geht mir um die Übersprungshandlungen, die kleinen spontanen Gesten der Unsicherheit, mit denen die Menschen verraten, wie sie wirklich sind.“ Gerling ist ein Positivist, wenn man so will. Seine Arbeit will keine Inszenierung. Ihr geht es um Wahrhaftigkeit.

Das Daumenkino ist älter als die Fotografie. 1868 ließ es sich der Engländer J.B. Linett als „Kineograph“ patentieren, später nannte man es Abblätterbuch, Folioskop oder Taschenkinoskop. Der Kinopionier Sklandowsky, der 1895 einen der ersten Filme im Berliner Wintergarten vorführte, bestritt seinen Lebensunterhalt aus dem Verkauf von Blätterbildern. Der 1968 im Rheinland geborene Volker Gerling entdeckte das alte Medium erst 1998. Zu dieser Zeit studierte er Regie und Kamera in Babelsberg, seit 1993 lebt er in Berlin. Seine Abschlussarbeit, eine kluge, schön geschriebene Reflektion über Zeit, Wiederholung und Relativität, handelt vom Daumenkino.

Im Unterschied zum Film, der 24 Bilder pro Sekunde aufnimmt, enthält es Daumenkino mehr Leerstellen zwischen den Einzelbildern. Der Film ist an das Kino gebunden, die Fotoausstellung an die Galerie. Wie aber präsentiert man als Künstler Daumenkinos? Das Blättern zwischen den Einzelbildern, so bemerkte Gerling eines Tages, gleicht dem Spaziergang. „Man kann vor- und zurückgehen. Oder man bleibt stehen und betrachtet genauer.“ Gerling kam auf die Idee, sich selbst in Bewegung zu setzen. Er schraubte Leisten an sein hölzernes Küchentablett und schnallte es sich vor den Bauch. Dann legte er seine Daumenkinos darauf und lief los. „Bitte besuchen Sie meine Wanderausstellung!“, hatte er auf ein Schild geschrieben.

Über schlechte Besucherzahlen braucht der Künstler, der seitdem auch noch sein eigener Galerist ist, nicht mehr zu klagen. Dennoch war es eine Überwindung. „Ich musste mich erst daran gewöhnen und meinen Platz finden.“ Mit einem Bauchladen auf der Straße stehen und seine eigene Arbeit anpreisen, das ist nicht leicht. „Es ist die unmittelbarste Art, sich dem Publikum auszusetzen. Aber ich wollte Reaktionen.“ Gerling stand auf der Bode-Brücke neben den Straßenmusikern, dann zog er durch Cafés und Kneipen. In seinen Bauchladen sägte er einen Schlitz für Münzen. Er nahm keinen Eintritt, sondern einen freiwilligen „Austritt“. Das Glas füllte sich. Gerling war noch immer nicht zufrieden. „In Berlin hatte ich es leicht. Die Berliner sind Kunst gewohnt.“ Er wollte nun auch Menschen mit seinen Bildern konfrontieren, die kein Verhältnis zur Kunst haben. Der Daumenkinograph beschloss zu wandern – ohne Geld. Er wollte vom Erlös seiner Kinovorstellungen leben. Am 25. Mai vergangenen Jahres lief er los. Ab der Haustür im Prenzlauer Berg begleiteten ihn einige Freunde. Am Ernst-Reuter-Platz gab der Letzte von ihnen auf. Gerling kam an diesem ersten Tag bis zum Wannsee, wo er sein Zelt am Wasser aufschlug. Am nächsten Tag hatte er die Stadt verlassen. Er lief nach Leipzig, Jena, Hof, Marienbad, Weiden, Regensburg, Ravensburg, Konstanz. Ende August war er in Zürich.

Den Bauchladen hatte Gerling dabei immer um. „Die schönsten Vorführungen hatte ich, wenn ich mitten im Wald jemanden traf.“ Einmal sah sich einer mit Jogginghose und tätowierten Unterarmen die Daumenkinos an. Er hatte kein Geld dabei. „Macht nichts“, sagt Gerling, „ich habe heute schon gegessen.“ Vier Kilometer später kam ihm der Mann vollkommen verschwitzt auf einem Fahrrad hinterhergestrampelt. Er brachte zehn Euro und Müsliriegel. Über Erlebnisse wie dieses hat Gerling Tagebuch geführt.

„Auf dem Land scheuen die Menschen davor zurück, die Daumenkinos in die Hand zu nehmen. Ihre Finger sind anderes gewohnt, sie lassen sich meine Arbeiten vorführen“, notierte er. Einige wenige besondere Begegnungen hat er fotografiert – natürlich als Daumenkino. In Jena lässt sich ein Mädchen mit geschlossenen Augen die langen Haare abschneiden. Die Bilder zeigen sein Gesicht, als es sich danach im Spiegel betrachtet. In München trägt eine Frau einen Pelzkragen. Im Daumenkino öffnet sie plötzlich die Bluse. Irgendwo, die ersten Äpfel sind gerade reif, spielt ein Junge auf einem Schiff. „Kann dein Schiff auch auf Gras schwimmen?“, fragt Gerling den Jungen. Später, fast hatte er seine Frage vergessen, winkt der Junge ihm plötzlich zu. Gerling schlägt sein Tagebuch auf und schreibt: „Seine kleine Hand trifft mich mitten in mein Herz.“ Volker Gerling würde es ungern zugeben, aber manche Wirklichkeiten kann man nicht abbilden. Nicht mal im Daumenkino.

Ausstellung „Daumenkinos und Fotografie Berlin – Basel“ bis 17. Mai in der „Galerie Engler & Piper, Kastanienallee 67 (Sa. 13-20 Uhr. Eröffnung am Sonnabend, den 17. April um 19 Uhr) .

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