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Kultur: Das Lesen ein Traum

Nirgends im öffentlichen Raum wird so viel verschlungen: eine Berliner U- und S-Bahnerforschung zur Buchmesse

Von Caroline Fetscher

Kurt Tucholsky beschrieb 1929 eine Szene, die ihn schwer gerührt hat: „Am 28. Juni jenes Jahres saßen Friedchen Bönheim und Alfred Kaktus auf einer Bank des Treptower Parks und lasen gemeinsam die deutsche Verfassung. Gibt es doch für arbeitsreiche Liebesleute in den Mußestunden nichts Schöneres, als sich an Märchengeschichten zu erbauen!“ Gut ausgedacht, nicht ohne Hintersinn. Doch das ist lange her.

Friedchen und Alfred heißen heute wahrscheinlich Nicole und Sven, und sie haben es nicht nötig, die Verfassung zu lesen, weder als Fiktion noch als Fachbuch. Denn das tun nun andere, Leute der Elite, die im n von Nicole und Sven gewissenhaft über Republik und Demokratie wachen. Gelesen hingegen wird immer noch, im öffentlichen Raum, vor allem in Minuten, in der die U-Bahn oder S-Bahn zum Arbeitsplatz rollt. Während draußen die Hauswände vorbeiziehen, füllen sich drinnen die Köpfe der Kurzreisenden mit Lesestoff. Mit den Symbolen, aus denen die Welt fabriziert wird.

Klar, wohl die Hälfte aller, die unterwegs sind, liest am frühen Morgen Zeitung, sei es auf der Strecke nach Köpenick im Osten oder Steglitz im Westen. Da aber der frühe Morgen den kleinen Angestellten gehört, die den Tag über nichts Großes zu hoffen und zu träumen haben, finden wir in ihren Händen mitunter das Buch. Nicht das Buch der Literaturbeilagen, eher das im Feuilleton unbekannte Buch, das hingebungsvoll aufgesogen wird – vor allem von Frauen. Am Nollendorfplatz wärmt sich eine junge Arzthelferin an „Die Mutter“ von Petra Himmelsfahr, und eine Angestellte der Sozialversicherung sucht „Die geliehene Zeit“ von Diana Gabaldon: „Das sind vier Bände in einem.“ William Lashners Thriller „Die Kanzlei“ fasziniert eine modisch gekleidete Rechtsanwalts- und Notargehilfin: „In der Bahn lese ich immer“, sagt sie, „am liebsten in Richtung Krimi.“ „Träum weiter, Liebling“ von Susan Elisabeth Philips ist die Morgenlektüre einer Kauffrau von 25 Jahren. Auf den Fingernägeln trägt sie Glitterlack und in einem Schneidezahn einen winzigen diamantartigen Stein. Der Roman sei wahrscheinlich einer mit Happy End. Sie mag Bücher, aber „die Namen der Autoren wüßte ich jetzt nicht so genau zu sagen.“

Riesige, ungeahnte Märkte entfalten sich bei dieser Feldstudie, weite Felder und Wälder der Sehnsüchte, des Begehrens und des parallelen Lebens, angesiedelt zwischen Fantasien und Fantasmen. Diese Bücher, deren Leserinnen sich die Namen der Autoren nicht merken können, werden fast nie rezensiert. Sie werben für sich, diese von den Feuilletons ungehobenen Schätze der Alltagsforschung, durch Titel, Preise und Mund-Propaganda. „Hat mir eine Freundin empfohlen". Oder: „Hab ich irgendwo im Laden liegen gesehen und es mitgenommen.“

Den Mann fürs Leben finden

Verhalten schwärmt eine Buchhalterin von Maeve Binchy, „Cathys Traum“. Nein, sagt sie, „das ist kein Liebesroman, eher eine Gesellschaftsroman, einer mit Milieukritik. Es geht darum, dass eine Frau einen Cateringservice aufbauen will, sie hat reiche Schwiegereltern und möchte einen eigenen Betrieb.“ Wichtig. Der eigene Betrieb spielt eine große Rolle bei den realistischen Frauen, daher hat die 26-jährige kaufmännische Angestellte „Miss Moneymaker“ von Claudia Maurer dabei, aus dem Verlag Wunderlich. „Das ist eine Anleitung zum besseren Umgang mit Geld, für Frauen. Naja, es geht so. Aber ich lese es zu Ende.“ Sie wolle sich angewöhnen, mehr zu lesen. Außer in der U-Bahn läse sie gar nicht. Und da, wirft sie sich vor, „bin ich oft abgelenkt. Die Leute, die Geräusche – ich lese zu wenig“, sagt sie, die blonde Kurzhaarige, ein wenig blasse. Sie sieht nach zu wenig Schlaf aus.

„Na, wie finden Sie das?“ grinst die Apothekenhelferin an der Warschauer Straße vergnügt, und hält ihr Buch hoch, selbstironisch: „Das muss doch ein Treffer für Sie sein?“ Es handelt sich um den Ratgeber von Ellen Fein und Sherrie Schneider „Die Kunst, den Mann fürs Leben zu finden. Alle Regeln in einem Band“ (Serie Piper). Ansonsten liest sie eher Astrologie oder auch mal Zeitung. Aber das hier war ein heißer Tipp von einer Bekannten. „Super“. Sie freut sich.

Die rollenden Leseräume ziehen von Bahnhof zur Bahnhof, quer durch die Stadt, von einer Klassensphäre zur anderen, über und unter der Erde, und neben dem Markt der namenlosen Frauenwerke gibt es den der namenlosen Männerwerke, der in diesen Leseräumen den Weltraum sucht. Wenn Männer nicht Zeitung oder Computerzeitschriften lesen, dann tauchen sie, die jungen Technikstudenten oder Netzwerkadministratoren oder kaufmännischen Angestellten, in die Science-Fiction-Tiefen ganzer Zyklen ein, verfasst von Autorenkollektiven. In „Dunkles Schicksal. Das Blut der Kerensky“, erklärt ein angehender Verkehrsingenieur, der auch Stephen King schätzt, „geht es um Sternenwelten, die sich gegenseitig bekämpfen“, und das wird alles „sehr plastisch beschrieben“. Man kann das, erklärt er, auch auf dem Heimtrainer lesen, wenn man das Buch auf den Lenker legt. Aus „Shadowdown. Der Weg in die Schatten“, herausgegeben von Jordan Weisman, will sich der junge Mann mit dem roten Bärtchen ungern wecken lassen. „Es geht um Aliens, andere Welten.“ Männer auf der Suche nach dem Erhabenen in seiner technischen Gestalt, Männer in Gegenwelten bevölkern die Bahnen, und flößen leise vielleicht unbegründete Angst ein, vor dem Bewußtsein, dass sie sich hier antrainieren, vor dem Untergrund der Seele, dem sie in der Untergrundbahn begegnen.

Den Schmöker zum Reisen suchen

Dann, es ist bald zehn Uhr, die kleinen Angestellten sitzen längst in ihren Büros, und in der Nähe von Friedrichshagen taucht eine literaturlesende Leserin auf, Cellistin und Mutter. Paulo Coelhos „Auf dem Jakobsweg“ hat sie bezaubert: „Das ist der Autor, ganz und gar empfehlenswert“. Ein 20-Jähriger mit Pferdeschwanz und Sportjacke hat sich in Friederike Mairöckers „Reise durch die Nacht“ vertieft, und gibt an, sonst nur Rilke, Hesse, Max Frisch zu lesen. „Niemals Stuckrad-Barre oder so, das ist ja abartig!“ Er kommt aus dem Osten, aus einer Lesefamilie, und er leistet Zivildienst.

In Russland, meint Svetlana, lesen auch alle in der Bahn, aber mehr Zeitungen. Hier lesen sie mehr Bücher. Begleitet von einem schläfrigen Hund, fährt das Au-Pair-Mädchen jeden Morgen zu einer Familie irgendwo in Wilmersdorf. Auf ihren Knien ein schweres Buch, schützend eingeschlagen in Illustriertenpapier „Deutsch zum Selbststudium“. In der Bahn als Seminar- und Arbeitsort wird Japanisch gelernt, Italienisch, Polnisch. Ein Herr mit dicker Brille hat 200 Seiten Manuskript auf den Mantelschößen liegen, in die er Korrekturen einträgt – Anleitungstexte einer Pharmafirma. Der Philologe ohne Abschluss korrigiert seit Jahrzehnten gegen Honorar, seit er sich damit 1969 die Zeit während seiner Nachtschichten bei den Allierten vertrieben hat. Seine Welt besteht weniger aus dem Konsumieren von Gedrucktem, als aus dem Jäten von Druckfehlern, dabei ist seine Laune erstaunlich gut geblieben. „Sie sind vom Tagesspiegel?“ Er lacht. „Na, die machen Fehler...“ Zum Trost fügt er hinzu: „Die anderen auch!“ Er ist der einzige Befragte an diesem Tag, der fürs Lesen bezahlt wird, statt dafür zu bezahlen.

Wer die Lesenden in der Bahn seinerseits „lesen“ will, bräuchte Monate, Jahre. Und wer sich als Verleger fragt, wie man die wahre, schöne, gute Literatur zu den Lesenden in der U-Bahn bringt, der sollte vielleicht dort werben. Sonderdruck-Kapitel verteilen, Dichter zum Vorlesen in die Züge schicken. Er könnte allerdings scheitern. Vielleicht – aber das ist ungewiss – nahm die Friseuse, die gestern am Bahnhof Friedrichstraße auf einer Bank saß, auf ihre Bahn wartete und dabei Theodor Storms „Schimmelreiter“ las, an einem solchen Hochliteratur-Programm teil. Sie trug beim Lesen Kopfhörer und wippte zu Popmusik mit den Füßen. Gern hätte ich gewusst, welche Band zum „Schimmelreiter“ passt. Ich habe sie nicht angesprochen. Lesende soll man nicht aufhalten.

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