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Kultur: Das Los der Einsamkeit

Lotto, Jackpot, ein unvorstellbarer Betrag – der höchste, der in Europa je ausgezahlt wurde. Dolores McNamara hat ihn gewonnen. Doch das sorgenfreie Leben ist ein Traum geblieben

Sie kam gerne und immer freitags mit ihren Freundinnen. Doch das ist vorbei, seit es diese märchenhafte Verkettung von Zufällen gab, die aus Dolores McNamara eine Frau gemacht hat, die plötzlich 115 Millionen Euro besaß. Jemand mit so viel Geld scheint nicht mehr an den Tresen der „Track Bar“ zu passen. Zu fein, zu prominent, zu weit weg von diesem Leben, so sehen es die meisten Stammgäste hier. Ihre Familie wird bedroht.

Die „Track Bar“ in ist einer jener Pubs, in dem manche Gäste bereits zum Frühstück Schnaps aus Wassergläsern trinken. Ein Fernseher in der Ecke zeigt Sportergebnisse und Nachrichten in endloser Schleife, und auch die Gespräche am Tresen laufen oft im Kreis. Sie drehen sich um Windhunde, die auf der benachbarten Rennbahn hinter Hasenimitat herjagen. Um die Ergebnisse der letzten Schlägereien, um Resultate der Rugbyspiele vom Wochenende. Worüber man in Garryowen so spricht, einem Viertel der 90 000-Einwohnerstadt Limerick im Südwesten Irlands, in dem viele Träume im Schnapsglas oder auf der Hunderennbahn enden.

Selbst Heinrich Böll, den an Irland so ziemlich alles begeisterte, fiel zu Limerick vor allem die Farbe „grau“ ein. Vom wirtschaftlichen Aufschwung auf der Insel hat die Weltzentrale für fünfzeilige Reime ziemlich wenig abbekommen, nur Nagelstudios scheinen zu funktionieren. Überall Nagelstudios und Pubs. Weil Messerstechereien zum Lokalkolorit gehören, trägt die Stadt den Beinamen „Stab-City.“

Im „Track“, wie die „Track Bar“ hier heißt, steht noch der kalte Zigarettenrauch der letzten Nacht, und wer am Fenster sitzt, sieht durch milchiges Glas, wie draußen Mülltüten vorbeiwehen. Die Häuser der Nachbarschaft sind klein und eng aneinandergebaut, man begegnet Frauen in bonbonfarbenen Jogginganzügen und Männern in dunkleren Modellen. Für sie ist im Viertel meistens nur dann etwas los, wenn dürre Hunde durchs Oval hetzen, beobachtet von Spielern mit Schiebermützen, älteren Herren, die mit Eurostücken in den Hosentaschen klimpern und billigen Kaffee aus Plastikbechern trinken.

Das Glück jedenfalls begegnet einem nicht allzu oft im Viertel und erst recht nicht in der „Track Bar“, aber ein Mal hat es hereingeschaut. Zumindest schien es so, als die Fabrikarbeiterin Dolores McNamara, 47, Mutter von sechs Kindern, Nachbarin aus Garryowen, den Jackpot der Lotterie abräumte: 115 436 126 Euro. Es war der größte Gewinn, der in Europa jemals ausgezahlt wurde. Inzwischen weiß Dolores McNamara, dass ein Lottojackpot nicht zwangsläufig der große Gewinn ist. Sie ist umgezogen, sie führt ein anderes Leben, abgeschottet, weil sie sich in ihrem alten nicht mehr wohlfühlte.

Über dem Eingang des Supermarktes „Garryowen Stores“, den Dolores McNamara am Abend des 29. Juli 2005 betrat, hängt eine Überwachungskamera in einem Käfig aus Stahl. Es war ein Freitag, und wie fast jeden Freitag befand sich Mrs. McNamara, eine Frau mit damals blondierter, ausgefranster Dauerwelle und einem verlebten Gesicht, auf dem Weg in ihre Stammkneipe. Da sie noch etwas Zeit hatte, überlegte sie, eine neue Schale für ihr Handy zu kaufen. An der Kasse fragte McNamara nach einem Lotterielos. Warum, kann sie auch später nicht erklären. War so ein Gefühl. Eigentlich spielt sie nie.

„Für Euro Millions?“, fragte die Verkäuferin.

„Hm, ja, okay“, sagte McNamara in der Annahme, es handele sich um die Ziehung, die samstagabends im Fernsehen übertragen wird. Sie kaufte ein einfaches Los, eine einzige Zahlenkombination, für zwei Euro. Später wird die Boulevardzeitung „Sun“ berichten, ein anderer Kunde, der in den Laden gekommen war, um einen Lottoschein zu erwerben, habe ihr den Vortritt gelassen. Aber das hat die Zeitung ziemlich exklusiv. Im Supermarkt jedenfalls kann sich bis heute niemand an diesen Gentleman erinnern.

Die Verkäuferinnen wollen heute gar nicht mehr über die Angelegenheit reden; sie sehen einen gelangweilt an, wenn man mit einer „Irish Times“ und mit Fragen an ihrer Kasse steht. Journalisten aus der ganzen Welt waren schon da, untersuchten jedes Regal, standen mit einem Alibieinkauf vor ihnen und stellten die immer gleichen Fragen. Es kommt noch immer vor, dass Touristen vor dem Supermarkt anhalten und sich mit dem Schriftzug „Garryowen Store“ im Hintergrund fotografieren.

In die „Track Bar“ nebenan verirrt sich dagegen kaum ein Reisender. In jener Nacht, einige Bierchen nachdem Dolores McNamara hereingekommen war, brachte das Fernsehen die Lottozahlen. Ihre Freundinnen, schon sehr heiter, begannen damit, die Nummern ihrer Lose zu prüfen. Erst jetzt fiel Mrs. McNamara auf, dass ihr Zettel an diesem Tag gültig war. Weil sie kurzsichtig ist, bat sie eine Freundin, die Zahlen vorzulesen.

3 – 9 – 26 – 49 – 50, dazu Glücksstern 4, Glücksstern 5.

Eine der Freundinnen sah auf das Los, dann auf den Bildschirm, wieder auf das Los. Ein spitzer Schrei. Dolores McNamara verstand nicht. Die Freundin schrie, zeigte mit dem Finger auf das Los, immer wieder, brüllte wie von Sinnen. Dolores McNamara begriff, schrie, dann die ganze Gruppe. McNamara begann, vom Glück überwältigt, zu weinen.

„Ein Chaos brach aus. Wir dachten erst, es sei ein Scherz“, erzählt der Barmann, ein junger, blasser Mann mit dem klassischsten aller irischen Namen: Jason O’Connor. „Um genau zu sein: Es war die verrückteste und wildeste Nacht aller Zeiten. Immer mehr Gäste kamen.“ Er spricht mit gedämpfter Stimme. Die Besucher der „Track Bar“ sind inzwischen nicht mehr besonders gut auf die Millionärin zu sprechen, die heute auf einem Anwesen im exklusiven Dorf Killaloe außerhalb Limericks wohnt mit Swimmingpool und einer Auffahrt, die nach Einschätzung des „Daily Mirror“ eine halbe Meile lang ist. Es dauerte nicht lange, bis jeder im Pub ein Getränk bestellte, mit dem Hinweis, „die da hinten in der Ecke“ werde schon alle einladen. „Wissen Sie was“, sagt der Barkeeper, „in diesem Moment tat mir Dolores richtig leid.“

Auch die Euphorie der neuen Millionärin schlug wenige Minuten nach dem Gewinn in Sorge um. Wie den Gewinn sichern, was war nun zu tun? Dolores McNamara kippte einen großen Brandy hinunter, stieg in ein Taxi und fuhr zur Polizeistation.

Die Beamten lehnten ab: zu wertvoll das Los, zu unsicher ihre Wache. Also klingelte sie den Direktor einer Bank aus dem Schlaf und transportierte den kostbaren Zettel mit einer Polizeieskorte in den Tresor.

Dolores McNamara fuhr in die „Track Bar“ zurück und bestellte unter großem Jubel Champagner oder zumindest eine Art Champagner. Dann rief sie zu Hause an und erzählte ihrem Mann die Neuigkeiten, so behutsam man eben von einem dreistelligen Millionengewinn berichten kann. Erst kurz zuvor war er am Herzen operiert worden.

Der Morgen danach. Frau McNamara kämpfte noch mit den Folgen des „Cru de Garryowen“, als sich die ersten Fernsehteams vor ihrem Haus aufbauten – einem kleinen, weiß gestrichenen Bungalow, Patrick Street, Nummer 22.

Die McNamaras packten rasch ihre Koffer, und was nun begann, ist der Versuch einer Flucht quer durch Irland und England, verfolgt von einer Öffentlichkeit, die danach gierte, jede Sekunde ihres Glücks zu teilen. Oder aber es neidvoll zu kommentieren.

Dass sie ihr unsichtbares Leben zwischen Zuhause, „Track Bar“ und dem jährlichen Pauschalurlaub in der Türkei nicht behalten würde, merkte Dolores McNamara sehr schnell.

Zwei Tage nach dem Gewinn druckten Englands Boulevardblätter private Bilder aus der Partynacht. Eine Freundin hatte sie verkauft, angeblich für einen Betrag im Wert eines Mittelklasseautos. Die Familie wechselt die Autos und Hotelzimmer so häufig wie Agenten in Filmen. Immer gab es jemanden, der die Paparazzi mit Hinweisen versorgte. Und Londons Boulevardblätter versuchten sich mit lukrativen Angeboten für ein Gespräch gegenseitig auszustechen – als ob es Dolores McNamara noch um Geld gegangen wäre. Derjenige, der sie schließlich befragen durfte, war Keith Watterson, Redakteur des „Limerick Leader“.

„Sie wirkte eingeschüchtert, beinahe verängstigt“, sagt Watterson. Der „Limerick Leader“ ist eine Heimatzeitung, für die der Unfall eines örtlichen Motorradhelden wichtiger ist als ein Erdbeben in Pakistan oder eine Krise in Nahost und in der die Seiten nicht immer richtig nummeriert sind. Dem „Leader“ gab Dolores McNamara ihr einziges Interview, das eigentlich gar keines ist. Sondern eine flehentliche Bitte an ihre Nachbarn, sie in ihr altes Leben zurückzulassen. Die Fließbandarbeiterin, die zuletzt als Reinigungskraft in Teilzeit die Familie durchbrachte, ist keine von ihnen mehr.

Warum?

„Sie hätte den Gewinn besser für sich behalten und nicht damit angeben sollen“, schimpft ein rotgesichtiger Mann am Tresen der „Track Bar“, bevor er das Glas wieder ansetzt. Eben hatte er noch erzählt, dass er in der Partynacht mit Dolores McNamara feierte. „Gut, dass sie weggezogen ist. Besser für sie“, sagt ein anderer. Die Männer nicken dazu in ihre Biere, von denen ein Werbeschild neben dem Zapfhahn behauptet, es handele sich um den wahren örtlichen Reichtum. Dolores McNamara, die früher manchmal nicht wusste, woher sie das Geld für die Schuluniformen ihrer Kinder nehmen sollte, gilt nun als Prominente, reicher als die Beckhams oder Irlands Hollywoodstar Colin Farrell. Weshalb für sie auch die gleichen Spielregeln gelten wie für die Beckhams oder Colin Farrell: Jeder Schritt wird beäugt, analysiert. Als Dolores McNamara mit ihren Kindern einkaufen ging – in preiswerten Geschäften wie früher – lästerten die Zeitungen über eine 25-Euro-Handtasche aus dem Sonderangebot: „So viel Geld, so wenig Stil!“, ereiferte sich eine Kolumnistin. Käme sie mit prallen Tüten aus einer Gucci-Filiale, hieße es wohl: „Sie hat den Boden unter den Füßen verloren!“ Aufmerksam verfolgte man, dass sie ihren zehn Jahre alten Opel Astra gegen einen neuen BMW tauschte. Ein örtlicher Priester riet inzwischen in einem Kommentar für Limericks Zentralorgan, das Vermögen besser zu spenden. Natürlich der katholischen Kirche, im Sinne des Herrn, Amen.

Einer, der ihr half zu fliehen, war der Besitzer der „Track Bar“, in der McNamara einige Wochen nach der Wundernacht dann auch eine Art Pressekonferenz gab. Hinter einem Tisch saßen die Lottokönigin, der Kneipenwirt und ein Anwalt, der einen kurzen Text verlas. Einen Appell, doch bitte McNamaras Privatsphäre zu respektieren und die Familie in Frieden leben zu lassen.

„Sie saß neben dem Mann im Anzug mit einer Marbella-Bräune im Gesicht und einem neuen Kleid“, sagt Redakteur Watterson, ein Mann mit Limerick-Blässe und dem Anzug eines Konfirmanden. „Sie sagte kein Wort. Sie sah sehr einsam aus.“ In den ersten Monaten richtete die örtliche Postfiliale eine Extraschicht ein, um kistenweise Bettelbriefe vor dem kleinen Bungalow, Dolores McNamara, Patrick Street, Limerick, vorbeizubringen. Mehr als 15 000 sollen es im ersten halben Jahr gewesen sein. Die Nachbarn wurden wochenlang von Finanzberatern belagert, die für einen Kontakt oder eine Telefonnummer kostenlose Urlaubsreisen ans Mittelmeer versprachen.

Man könnte sich härtere Schicksale vorstellen, als einen dreistelligen Millionenbetrag im Lotto zu gewinnen. Doch man ahnt, dass die Härte, mit der Dolores McNamara Neid zu spüren bekam, auch mit einem neunstelligen Schmerzensgeld schwer auszuhalten ist.

Es verbesserte die allgemeine Stimmung nicht, als öffentlich wurde, wer einer ihrer Neffen ist: Anthony „Noddy“ McCarthy, ein zu lebenslanger Haft verurteilter Mörder. Auf Anraten der Polizei zogen ihre jüngeren Kinder und zwei Enkel aus Limerick fort, nachdem man Hinweise auf eine geplante Entführung erhalten hatte. Ihr ältester Sohn Gary, 26, bekam Morddrohungen von einer Gang.

In der „Track Bar“ verstummen alle Gespräche, weil Neuigkeiten von „Dolores, der Lottomillionärin“ über den Bildschirm flimmern. Killer „Noddy“, der einen Unterweltboss tötete, hat angeblich einen Staranwalt in London beauftragt, seinen Fall neu aufzurollen. Offenbar mit dem Ziel, die lebenslange Haftstrafe anzufechten. Zu den Klienten des Juristen gehörten – der Reporter bemüht sich, atemlos zu klingen – unter anderem Slobodan Milosevic und Saddam Hussein. Zudem soll er Kontakte zu, Kunstpause, Osama bin Laden gehabt haben.

Milosevic, Saddam Hussein, Osama bin Laden. Limerick.

Die Zecher am Tresen blicken sich an. „Woher hat der Typ wohl das Geld für solch einen Anwalt?“, fragt einer. Es folgen Flüche und Verwünschungen, es wird den Rest des Vormittags nicht aufhören.

Einige Wochen nach dem Gewinn kam Dolores McNamara in ihre alte Stammkneipe. Sie setzte sich mit einem Drink in eine Ecke, alleine. Sie sprach niemanden an. Sie wollte für ein paar Minuten zu Besuch sein in ihrer alten Welt.

Stefan Krücken[Limerick]

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