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Kultur: Das Metronom als Lebenszeichen

900 Tage Ewigkeit: Das Deutsch-Russische Museum Berlin erinnert an die Belagerung von Leningrad

Genosse Kubatkin, Kommissar der Staatssicherheit dritten Ranges im belagerten Leningrad, meldet im März 1942 Entsetzliches an seine Vorgesetzten: Allein im Februar seien, so notiert der Geheimdienstler, 612 Personen „wegen der Verwendung von Menschenfleisch als Nahrung verhaftet“ worden. Der Chefspitzel wird zum Chronist des Grauens, berichtet vom Arbeiter Fedorow, der seinen Nachbarn zerteilt und auf dem Markt als Rindfleisch verkauft habe, von Frau Artemowa, Mutter einer fünfjährigen Tochter und Mitarbeiterin in einer Spielzeugfabrik, die Leichen vom Friedhof gestohlen und verzehrt habe. Kubatkins Kannibalismusliste ist lang, und doch nur Detail einer viel größeren Katastrophe.

900 Tage lang, vom September 1941 bis zum Januar 1944, belagern deutsche – und ein paar finnische – Truppen Leningrad, die zweitgrößte Stadt der Sowjetunion. Knapp 2,5 Millionen Zivilisten sitzen in der Falle, monatelang sind alle Landverbindungen zum Hinterland abgeschnitten. Die Deutschen beschießen die Stadt, töten 18000 Einwohner mit ihren Granaten. Für 800000 Menschen kommt der Tod langsamer: Sie verhungern.

Gut 60 Jahre nach dem Ende der Blockade hat das Deutsch-Russische Museum in Karlshorst eine kleine Ausstellung eröffnet, die das schreckliche Leben und Leiden im isolierten Leningrad eindrucksvoll dokumentiert. Bilder zeigen bizarr verschneite Panzersperren, noch offene Massengräber, blutige Straßenszenen nach einem Artillerieangriff. Und immer wieder Schlitten. Schlitten mit Brennholz, mit Trinkwasser, mit geschwächten Kindern. Meist aber beladen mit behelfsweise verschnürten Leichen, zum Friedhof gezogen von tief vermummten, tief gebeugten Angehörigen.

Im strengen Winter 1941/42 fallen Alte, Kinder, Entkräftete einfach um, sterben auf den breiten Straßen der alten Zarenstadt. Die Erschöpfung kennt kaum noch Grenzen: „Die Lebenden haben nicht mehr genügend Kraft, um die Toten zu begraben“, schreibt eine Leningraderin Ende 1941 in ihr Tagebuch.

Auf den überlieferten Fotos blicken Menschen, vom Hunger entstellt, apathisch in die Kamera. Weit über 200000 Einwohner der unglücklichen Stadt verhungern schon in den ersten beiden Monaten des Jahres 1942. Erst im Frühjahr, als es gelingt, zumindest etwas Nachschub über den zugefrorenen Ladoga-See heranzuschaffen, verbessert sich die Situation allmählich; noch später versorgen Schiffe die eingeschlossene Stadt mit dem Allernotwendigsten.

War das Elend unvermeidlich? Warum hat die Wehrmacht die Stadt nicht einfach überrannt und besetzt wie Smolensk oder Kiew? Die Antwort ist so einfach wie menschenverachtend: Die nationalsozialistische Führung hat weder Möglichkeiten und schon gar nicht den Willen, ein erobertes Leningrad mit Nahrung zu versorgen. Der Hungertod Hunderttausender wird ganz bewusst in Kauf genommen, ist sogar, wie Peter Jahn im ausgezeichneten Ausstellungskatalog schreibt, „Teil des geplanten Völkermords an der Bevölkerung der Sowjetunion“. Ohnehin hat Hitler die Annahme einer Kapitulation verboten, will vielmehr das „Giftnest Petersburg, aus dem so lange das asiatische Gift in die Ostsee hinausgequollen“ sei, nach der Vernichtung der Einwohner dem Erdboden gleichmachen. Der einzigartige kulturelle Reichtum der 1703 gegründeten Metropole kümmert die Deutschen nicht.

Aber die Stadt der Oktoberrevolution wehrt sich. In den halb zerstörten, ungeheizten Fabriken montieren ausgemergelte Arbeiter Kanonen und Gewehre, reparieren Panzer und Flugzeuge für die Rote Armee. Und immer wieder greifen die sowjetischen Divisionen die Belagerer an – unter ungeheuren Opfern. Fast eine Million russische Soldaten sterben während der Kämpfe; die Verluste auf deutscher Seite sind deutlich geringer, und dennoch unfassbar blutig.

Leningrad leistet nicht nur militärischen Widerstand: Theater und Konzertsäle bleiben so lange wie möglich geöffnet, und neben Tschaikowsky und Rimsky-Korsakow werden auf den in Karlshorst gezeigten Programmzetteln auch Strauss und Verdi angekündigt. Doch trotz aller musikalischen Ablenkungsmanöver, trotz der legendären „Leningrader“ Symphonie Schostakowitschs: Zum akustischen Symbol der Belagerung wird das monotone Klicken eines Metronoms in den langen Programmpausen des Radios, für viele isolierte Hörer das einzige Lebenszeichen in der siechenden Stadt.

Die sehenswerte Ausstellung in Karlshorst informiert sachlich und präzise über Kälte, Hunger und Einsamkeit der endlosen 900 Tage. Und trotzdem bleibt das Leningrad der Kriegsjahre für den Besucher aus dem Berlin der Gegenwart verschlossen, ist doch das qualvolle Sterben von Hunderttausenden mit der heutigen Vorstellungskraft nicht mehr vereinbar. Um so wichtiger die Erinnerung daran.

Blockade Leningrads. Sonderausstellung im Deutsch-Russischen Museum Karlshorst, Zwieseler Straße 4. Bis 5. September, Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr. Eintritt frei. Der deutsch-russische Katalog kostet 15 Euro.

Jörg Kirchhoff

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