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Das Museum als Erlebnisparcours: Wie die Pinakothek der Moderne neue Wege sucht

Gefühle sind hoch im Kurs. Auch an der Münchner Pinakothek: Sie setzt mit der Schau „Feelings“ auf die bewegende Macht der Bilder, ohne Einordnung. Klappt das?

Da geht man ins Museum, um etwas zu lernen, zu sehen, zu erkennen. Und dann muss man als erstes erfahren, dass es nichts zu lernen, genauer: zu lesen gibt. Die Münchner Ausstellung „Feelings“ spielt – wie der Titel sagt – mit den Gefühlen und befördert doch enorm den Erkenntnisgewinn.

Zurückgeworfen auf das reine Werk ohne Schildchen daneben mit Künstlernamen, Titel und weiteren Angaben, ist der Betrachter auf seine Intuition angewiesen und damit den unverstellten Emotionen ausgeliefert. Die Hilfestellung durch rationalisierbare, kunsthistorische, didaktische Einordnung fehlt.

Die Pinakothek der Moderne wagt mit der Neupräsentation ihrer Sammlung ein Experiment. Bernhart Schwenk, zuständig für Gegenwartskunst, holte sich die Berliner Filmemacherin Nicola Graef hinzu, um durch sie ermuntert alle Kategorisierungen über Bord zu werfen und den Besucher auf eine Reise eigener Geschichten zu schicken. „Kunst und Emotion“, so der Untertitel, fordert zum unverstellten Dialog zwischen Werk und Betrachter auf.

Was ist also los mit dem kleinen Mädchen, das mit dem Rücken zum Betrachter in einer Ecke steht? Erst ist da nur Mitleid, dann keimt ein mulmiges Gefühl auf angesichts der intimen Szene, denn das Kind steht nicht öffentlich in einem Klassenraum, sondern neben einer übergroßen Kommode, die sich in einem Schlafzimmer befinden könnte.

Der Schweizer Stephan Melzl, einer der insgesamt 42 beteiligten Künstlerinnen und Künstler, schuf das Bild. Von ihm stammt ein weiteres Werk, ebenfalls eine Szene in einer Zimmerecke. Eine Frau im roten Abendkleid bedrängt einen nackten jungen Mann, der nur noch Wände hinter sich hat. „Spiel“ lautet der Titel, den man nicht unbedingt wissen müsste, um von der ambivalenten Situation fasziniert, irritiert zu sein.

Ekel und Trauer

Der Besucher navigiert im ersten Raum mit seinen himbeerroten Wänden eher zufallsgeleitet von einem Bild zum anderen. Die Säle sind nicht mehr neutral weiß gehalten, sondern in Mintgrün, Meerblau, Eisgrau gefasst, um die aufrauschenden Gefühle weiter fluten zu lassen.

Sie wechseln mit jedem Werk. Ekel steigt auf bei dem Knetgummi-Film „Turn into me“ von Nathalie Djurberg und Hans Berg, in dem ein menschlicher Körper nach und nach von Tieren des Waldes aufgefressen wird. Maden machen sich über ihn her, ein Waschbär schlüpft possierlich in den ausgeweideten Brustkorb und mit den letzten Happen wieder raus.

Entsetzen macht sich breit, als einem klar wird, dass in der Tragetasche vor dem Bankautomaten ein schlummerndes Baby liegt.

Die Installation „Modern Moses“ von Elmgreen & Dragset triggert ganze Geschichten, wie hier ein Neugeborenes ausgesetzt wurde – in der vagen Hoffnung auf begüterte neue Eltern. Bewunderung erwächst für die Britin Tracy Emin, die im Film erzählt, wie sie als 13-, 14-Jährige die Schule schwänzte und es stattdessen aus Lust und Freiheitsdrang mit Zufallsbekanntschaften trieb.

Nachdem sie bei einem Tanzwettbewerb von ihren früheren Liebhabern als „Slut“ ausgeschrieen wurde, verließ sie Margate. Die letzten Minuten des Films tanzt die Künstlerin ausgelassen für sich allein.

Traditionalismus liegen lassen

Die Ausstellung „Feelings“ liegt im Trend. Weltweit befragen sich gerade die Museen, was ihre Funktion, ihr Platz in der Gesellschaft ist. Indem die Münchner Kuratoren jegliche Begleitinformation verbannen und auf den Moment des reinen Erlebnisses setzen, versuchen sie nicht zuletzt neue Publikumsschichten zu erschließen, Schwellen herabzusetzen.

Damit knüpfen sie an Konzepte an, die gegenwärtig in den großen Kunsthäusern ausprobiert werden, etwa im Museum of Modern Art, künftig auch im Museum des 20. Jahrhunderts in Berlin. Im MoMA gibt es zwar noch Saaltexte, doch entschlackt von jeglichen Fachbegriffen, die Neubesucher abschrecken könnten.

Das neu eingerichtete MoMA verblüfft und begeistert durch seine zeitlichen Sprünge. Über Jahrzehnte hinweg wird miteinander kombiniert, was formal und inhaltlich zusammenpasst. Die zwanghafte Chronologie der Ismen gilt nicht mehr, die Fixierung auf den westlichen Kanon ist ohnehin obsolet.

Auch für Berlin hat Nationalgalerie-Direktor Udo Kittelmann eine Öffnung angekündigt. Wie in New York soll Bekanntes und Unbekanntes nebeneinander hängen. Für Traditionalisten dürfte das nicht einfach sein.

Ausstellungsbesuch wird zum Erlebnisparcours

„Feelings“ geht noch weiter. Der Ausstellungsbesuch wird zum Erlebnisparcours, das Museum ist hier nicht länger Weihetempel der Kunst, schon gar nicht Lehranstalt. Das weckt wiederum gemischte Gefühle. Schließlich wächst mit der Kenntnis um Kunst für den Betrachter auch deren Komplexität. Der Leitsatz „Man sieht nur, was man weiß“ ist einfach ausgehebelt.

Und doch hat die Münchner Ausstellung mehr im Sinn. Sie knüpft an einen relativ jungen Forschungszweig an, die Emotionsforschung in Psychologie, Soziologie und Neurowissenschaft. Dass über die Hälfte unserer Entscheidungen emotional bestimmt sind, häufig erst nachträglich rational begründet werden, hat erst in jüngster Zeit das Interesse der Wissenschaftler geweckt.

Der Mensch wird längst nicht mehr als reines Vernunftwesen gesehen. Doch was genau in unserem Kopf geschieht, wenn wir Bilder anschauen, lässt sich erst seit wenigen Jahren untersuchen. Mittels Magnetresonanztomografie ist feststellbar, welche Gehirnregionen neben der visuellen Verarbeitung bei der Betrachtung von Kunst aktiviert werden. So setzt gleichzeitig das sogenannte Ruhezustandsnetzwerk ein, das für Tagträumerei zuständig ist.

In München darf man sich ihr hingeben. Leicht fiel es dem Kunsthistoriker Bernhart Schwenk nicht, das Wissen um ein Werk erst einmal hintanzustellen.

Doch ist er fest davon überzeugt, dass nur durch eine radikale Öffnung, eine Enthierarchisierung, das Museum eine Zukunft hat. Die Institution müsse das Elitäre endlich abstreifen.

Das Publikum ist bisher angetan von dem Vorstoß der Pinakothek

Die Dokumentarfilmerin Nicola Graef besitzt ein weitaus unkomplizierteres Verhältnis zur Kunst. Sie will sich von ihr berühren, berauschen, bewegen lassen. In „Feelings“ kann man in seinen Gefühlen baden, wenn auch nicht unbedingt genussvoll.

Tadeusz Kantors Installation „Die tote Klasse“ von 1975, bestehend aus altmodischen Schulbänken mit gläsern nach vorne starrenden Schülern in Uniform verstört zutiefst. Unbehaglichkeit löst auch Vlassis Caniaris’ ein Jahr früher entstandener „Hühnerstall“ aus, der aus Holz, Draht, Kleidungsstücken besteht – eine Anspielung auf die Wohnsituation seiner griechischen Landsleute während seines daad-Aufenthalts in Berlin. Die Kritik ist universal verständlich.

[Pinakothek der Moderne, München, bis 24. Oktober.]

Auch Miwa Ogasawaras Gemälde erschließt sich ohne Worte. Der Titel „Grau“ würde ohnehin nicht verraten, dass die sechs nebeneinander liegenden Mädchen in weißen Kleidchen die toten Töchter von Goebbels sind, die die Künstlerin nach einer Schwarzweiß-Aufnahme malte. Man ahnt die Tragödie. Das muss reichen.

Das Publikum reagiert bislang angetan auf den Versuch in der Pinakothek der Moderne. Wer am Ende doch noch Künstlername und Titel wissen will, bekommt die Auflösung an einem Touchscreen geliefert. Einziger Kritikpunkt bislang: Die Werke seien alle so traurig. „Wo bleibt das Lachen?“, steht als Frage im Besucherbuch.

Bernhart Schwenk zuckt mit den Schultern. Was für eine Fröhlichkeit sollte das sein in der Kunst? Die stärksten Gefühle sind immer noch die schweren.

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