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Kultur: Das Paradies ist greifbar noch

Triumph des guten Zwecks: Simon Rattle entzündet mit den Berliner Philharmonikern Haydns „Schöpfung“

Einem echten Herrn wie Richard von Weizsäcker möchte man nur ungern unterstellen, dass ihn etwas noch so richtig, pardon, vom Hocker haut. Zu distinguiert die Erscheinung, zu perfekt die Contenance, viel zu ereignisreich und bewegt das lange Leben. Entsprechend schießt der Alt-Bundespräsident nach dem emphatisch, aber luftig verhallenden Schlussakkord der Haydnschen „Schöpfung“ nicht gerade entfesselt in die Höhe. Vielmehr erhebt er sich: gravitätisch und als allererster in Block A der Philharmonie, wie zweieinhalb Stunden zuvor bei der (von den Philharmonikern noch etwas flachbrüstig intonierten und mit allerlei borstigen Akzenten garnierten) Nationalhymne. Als sei vorne auf dem Podium ein Sog, ja ein Magnetismus entfacht worden, der ihm gar nichts anderes gestatte. Als wäre kurz darauf der ganze hell jubelnde Saal von Haydns Gottvertrauen und naiven Galanterien erfüllt und hätte alle Katastrophen und Klimaprognosen der Welt an diesem Tag vergessen: „Und Gott sah jedes Ding, was er gemacht hatte; und es war sehr gut.“ Amen – und ab zu Sekt und Häppchen?

Richard von Weizsäcker war es, der das Benefizkonzert des Bundespräsidenten 1988 ins Leben rief, und selten wohl lassen sich Kunst und Leben derart nützlich und gewinnbringend miteinander verschränken (in diesem Jahr gehen die Erlöse an den Bundesverband Deutsche Tafel sowie an die Berliner Tafel). Das weiß auch Nachfolger Horst Köhler und freute sich wie beim Handball-Halbfinale volksnah übers ganze Gesicht. Einerseits. Andererseits, wie gesagt, wachsen Gottfried van Swietens betulichen Texten seit jeher auch ungewollte Bedeutungen zu: „Wie Spreu vor dem Winde, so flogen die Wolken. / Die Luft durchschnitten feurige Blitze, / Und schrecklich rollten die Donner umher.“

Joseph Haydn muss nicht New Orleans antizipieren, um hier und heute ernst genommen zu werden. Das heißt: Große Kunst zielt immer auch aufs Aktuelle, potenziell Ambivalente, ja Widersprüchliche. Und genau hier setzt Simon Rattle seinen Haydn-Hebel an. Was kann uns die Schöpfung anderes sein, so seine (rhetorische) Frage, als die Montage, die Behauptung eines längst unübersichtlich gewordenen Ganzen? Mal röntgen wir die Strukturen und Gesetze unseres Daseins, mal haben wir diese Kraft nicht. Mal ist uns heiter ums Herz, mal bang. Mal loben wir den Schöpfer Mensch in alle Himmel, mal wünschen wir ihn zur Hölle. Mal zerstören, mal retten wir die Welt. Haydn, der Moderne. Der unbeugsame Realist. Seine Freundlichkeit macht ihn so liebenswert und klug.

Vielleicht ist Rattles Hand bei alle dem nicht wirklich leicht genug (er schlägt ohne Taktstock, was eine gewisse Neigung zum gestischen Ingrimm wohl eher steigert). Vielleicht steht gerade im ersten Teil des Oratoriums, in der Vorstellung des Chaos, der Teilung von Wasser und Erde, auch das Bosseln am musikalischen Detail, der Wille zur Arbeit zu sehr im Vordergrund. So mag es zwar richtig sein, sich in der „Finsternis“ und der „Fläche der Tiefe“ die Klänge gleichsam zu ertasten, um den ersten Lichtstrahl dann wie einen Scheinwerferspot ins schwärende Geschehen zu jagen, fast unbarmherzig, gleißend hell; von der Spannung und der Balance her aber stocherte hier einiges noch im Ungefähren. Ungünstig auch, dass der von Simon Halsey bestens präparierte Rundfunkchor (aus Platzgründen?) im weiten Halbrund Stellung zu beziehen hatte – da geriet so manches offenbar weniger kompakt und focussiert als nötig.

Je greifbarer freilich das Paradies rückte, jener dritte Teil, in dem Adam und Eva ganz ohne Sündenfall zueinander finden („Holde Gattin!“, „Teurer Gatte!“), desto plastischer, gewitzter und freier agierte Rattle. Schon die Verdichtung des Sonnenaufgangs entfaltete magischen Glanz: Wie die Philharmoniker dieses Riesencrescendo gleichsam auf einen Atem spannen, es taktweise mit immer mehr Klangsinnlichkeit und Fleisch und Blut anfütterten! Und wie herrlich lasziv später das Kontrafagott, wie präpotent die Posaunen!

Geradezu hinreißend auch, mit welcher stimmlichen Souveränität Thomas Quasthoff als Erzengel Gabriel seines Amtes waltete. Hat man die „Walfische“ je königlicher sich regen sehen, auf schillernderem Meeresgrund (vollendet das Zusammenspiel der tiefen Streicher im Accompagnato-Rezitativ!). Kroch das „Gewürrrrm“ je kreatürlicher im Staub? Die großen, in kathedralischer Eleganz aufleuchtenden Schlusschöre nahmen dann sogar die beiden anderen Gesangssolisten gnädig mit in die Arme (Lisa Milne als heftig grimassierende, aber wenig textverständliche Eva, John Mark Ainsley als tenoral schütterer Uriel). Ein guter Zweck heiligt eben viele Mittel.

Rattle & Haydn: „Die Schöpfung“ noch einmal heute 16 Uhr. Weitere Programme vom 8. – 10. und 14. – 16. Februar.

Christine Lemke-Matwey

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