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Sonnenuntergang am Malecon. Die Uferpromenade in Havanna. Foto: dpa

© picture-alliance/ ZB

Kultur: Das Paradies liegt im Parterre

Gigant der lateinamerikanischen Literatur: Vor hundert Jahren wurde José Lezama Lima geboren. Eine Erkundung in Havanna

Durch die Straßen wummert Reggaetón, auf den Gehwegen häuft sich Abfall. Früher lag hier, nur zwei Häuserblocks vom glanzvollen Prado entfernt, der Rotlichtbezirk Colón. Zwar sind die schäbigen Bordelle seit der Revolution von 1959 verschwunden, doch der Stadtteil bietet bis heute ein trostloses Bild. „Centro Habana“, so der kubanische Schriftsteller Antonio José Ponte, „erscheint wie ein Schlachtfeld zwischen Barackisierung und wundersamer Statik.“

Von alledem hat sich José Lezama Lima nicht stören lassen. In der Straße lebte der am 19. Dezember 1910 in Havanna geborene Schriftsteller und passionierte Zigarrenraucher wie in einem Elfenbeinturm zu ebener Erde. Die Parterrewohnung hatte er 1929 zusammen mit seiner Mutter und der Schwester bezogen, seit 1994 dient sie als Museum. Die kleinen Räume, die sich um einen dunklen Innenhof gruppieren, die Zigarrenkisten, die große Bibliothek der mystischen Rätsel und die skurrilen Gegenstände in den Regalen hat Lezama in seinem Werk verewigt.

Ebenso sich selbst. Der Held seines Romans „Paradiso“ trägt autobiografische Züge: Wie Lezama ist José Cemí der Sohn eines Oberst, wächst in der größten Kaserne Havannas auf, seine behütete Kindheit bezeichnet er als „Langeweile in Reinkultur“, er studiert Jura, leidet an Asthma, ist hochgebildet und „mürrisch, bleich oder linkisch, je nach seiner augenblicklichen Gemütsverfassung“. Und wie der empfindliche Cemí war auch Lezamas Bindung zur Mutter außerordentlich stark. Mit ihr lebte er bis zu ihrem Tod 1964 zusammen, wenige Monate später erfüllte er ihren letzten Wunsch und heiratete seine Sekretärin, die liebevoll seine Manuskripte abtippte.

Lezama war schwul, keusch und überzeugter Katholik. In seinem Wohnzimmer, dem „ersten Mysterium“, wie er es nannte, traf Kubas künstlerische Avantgarde zusammen, wo sie von 1944 bis 1956 „Orígenes“ herstellte, eine der angesehensten Kulturzeitschriften Lateinamerikas. Begann die illustre Runde mit einem Rosenkranzgebet des Paters und Poeten Ángel Gaztelu, so konnte man Lezama später im Kino um die Ecke antreffen, wo er schüchtern die hübschen Platzanweiser beobachtete.

Deutlicher äußert er sein Begehren in seinem Roman „Paradiso“ von 1966. Darin geht es zwar um die Suche nach dem Paradies der Dichtung, doch nebenbei und geradezu philosophisch diskutiert Lezama den Ursprung und die Varianten menschlicher Sexualität. In den Augen von Castros Kulturbürokraten ein konterrevolutionärer Akt: Wenige Tage nach Erscheinen wurde der Roman wegen „homosexueller Passagen“ und „Pornografie“ aus den Buchhandlungen entfernt, der Autor selbst als „ideologisch unzuverlässig“ eingestuft. Den chilenischen Schriftsteller Jorge Edwards überraschte das kaum: „Fidels rigoroser Aktivismus passte so gar nicht zu Lezamas verblüffender, kontemplativer Sinnlichkeit, die im gesamten spanischsprachigen Kulturraum einzigartig ist.“

Im Ausland wurde „Paradiso“ als ein Jahrhundertroman gefeiert. Lezama hatte in seinem Opus magnum ein sprachliches Universum geschaffen, das vor barocker Syntax, rauschhaften Metaphern und maßloser schöpferischer Kraft nur so strotzt. Seit 1937 war Lezama als Lyriker in Erscheinung getreten, zuletzt 1960 mit der so üppigen wie hermetischen Gedichtsammlung „Dador“. Nun ließ er seine überbordende Poesie in die Prosa einfließen: „Paradiso“, eine Art kubanische Familiensaga, in der sich das kulturelle Erbe dreier Kontinente spiegelt, begriff der Autor selbst als ein „totales literarisches Werk“, das Lyrik, Erzählung und philosophischen Traktat in sich vereint. Der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar, der den Roman in Europa bekannt machte, nannte Lezama deshalb einen „tropischen Plutarch“.

Die Lektüre stellt hohe Ansprüche. Das gilt auch für den 1977 posthum veröffentlichten, Fragment gebliebenen Roman „Oppiano Licario“, den Lezama als Fortsetzung von „Paradiso“ eigentlich „Inferno“ nennen wollte. Hier wie dort verliert sich die Handlung in einer Hypertrophie aus Wörtern und ellenlangen Sätzen, die sich wie ineinander verstrickte Lianen in die Höhe ranken, nach allen Seiten hin verzweigen und für den Leser mitunter ein kaum zu durchdringendes Urwaldgeflecht bilden.

Auch wegen seiner enigmatischen Texte, die sich politischen Vorgaben nicht fügten, wurde der Schriftsteller von den Kulturbehörden geschmäht. Freunde blieben ihm nur wenige. Fortan verließ Lezama seine Wohnung nur noch, um vormittags einer Tätigkeit als Berater am Institut für Literatur und Sprachwissenschaft nachzugehen. Ansonsten zog er sich, umgeben von Büchern und Zigarrenrauch, in eine Welt zurück, in der Dichtung die einzige und absolute Wirklichkeit darstellte. „Lezama hatte seinen Lebensmittelpunkt im eigenen Haus, dort versah er sein Amt wie ein Magier, wie ein seltsamer Priester“, erinnert sich Reinaldo Arenas, der 1969 als junger Schriftsteller zu einem literarischen Zirkel in Lezamas Wohnzimmer stieß. „Er sprach, und wer ihm zuhörte, war danach vollständig verwandelt.“

Äußere Bewegungslosigkeit und innere Einsamkeit ließen den Dichter immer dicker werden; zuletzt wog er 150 Kilo. „Lezamas intellektuelle Unersättlichkeit war nur mit seinem gefräßigen Appetit vergleichbar; sie hatte Anfang und Ende in sich selbst, in seinem eigenen Nabel“, schreibt Jorge Edwards, der ihn 1971 in seinem Schneckenhaus besuchte. Als Lezama am 8. August 1976 in den eigenen Wänden zusammenbrach, konnten ihn die Sanitäter nur noch durchs Wohnzimmerfenster nach draußen wuchten; er passte nicht mehr durch die Tür. Einen Tag später starb er an einer akuten Lungenentzündung. Erst kurz zuvor war er als Schriftsteller rehabilitiert worden.

An der Hausnummer Trocadero 162 eilen heute Passanten vorbei, darunter die Hehler und Huren auf dem Weg zum Prado, dem Prachtboulevard der Touristen. Obwohl das kleine Museum in neuem Anstrich glänzt und Lezama längst zum nationalen Kulturerbe gehört, sind die Wärter zahlreicher vertreten als Besucher. Der universale Dichter, dessen Geist sich – wie es in „Paradiso“ heißt – irgendwo zwischen „schwankenden Flämmchen der unerlösten Seelen“ und einem „metaphorischen Wirbelwind“ austobt, er bleibt unfassbar.

Roman Rhode

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