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Kain erschlägt seinen Bruder Abel, Gemälde von Tintoretto.

© imago/Leemage

Das Prinzip Bruder: Es bleibt in der Familie

Die Charlie-Hebdo-Attentäter, die Klitschko-Brüder, Kain und Abel, Romulus und Remus: Brüder halten zusammen – wenn sie sich nicht bis aufs Blut streiten. In der Bruderschaft erlebt das männliche Prinzip eine Feierstunde.

Brüder haben zu allen Zeiten die Fantasien ins Kraut schießen lassen. Weil Brüder der Inbegriff von Einigkeit sind, Blut ist dicker als Wasser. Weil sie zugleich der Musterbegriff für Rivalität sind, großer Bruder, kleiner Bruder. Und weil Brüderlichkeit die Verheißung des Traums von der Gleichheit und vom Ende aller Feindschaft ist. Bruderschaft ist ein Mythos, war es zu allen Zeiten. Schon in der griechischen Götterwelt waren die vier obersten Regenten allesamt Geschwister, Zeus, Poseidon, Hades, Hera. Verwandtschaft spielt aber nicht nur in den Gefilden der Seligen eine besondere Rolle, sondern auch viel weiter unten, ganz da unten. Bei kriminellen Aktionen machen immer wieder Brüder von sich reden. Beim Angriff auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“; beim Attentat auf den Marathonlauf von Boston; beim KaDeWe-Raub in Berlin; beim Polizistenmord in Augsburg 2011. Längst hat das Motiv die Fiktion erreicht: In einem „Tatort“ im vergangenen Jahr waren Brüder die Täter.

Natürlich ist dieses Bruder-Phänomen nicht neu. Schon in den 1920er Jahren erlangten die Gebrüder Sass kriminelle Berühmtheit, weil sie sich vortrefflich auf das Knacken von Geldschränken verstanden. Und dass Brüderpaare in verbrecherischen Clans, bei Drogenkartellen, bei Mafia und Camorra schon immer eine Rolle spielten, ist gut bekannt.

Neu hingegen ist die Häufung der brüderlichen Rechtsbrüche. In der Geschwisterforschung, einer noch jungen Wissenschaftsdisziplin, gibt es dafür wenig Erklärungen. Immerhin, die Berliner Autorin Susann Sitzler, die vor einigen Monaten die gründliche Studie „Geschwister“ veröffentlicht hat, kann mit etlichen Beobachtungen aufwarten. Je unsicherer eine Situation ist – und ein Verbrechen zu begehen ist schließlich eine Lage hochgradiger Unsicherheit –, umso eher sucht man nach Sicherheiten. Und die, sagt Sitzler, findet man in einem gewöhnlichen Komplizen viel weniger als eben – in einem Bruder. Denn der wird einen nicht verraten. Es würde ihn allzu teuer zu stehen kommen. Mit einem Verrat würde er etwas Höheres beschädigen als die pure Komplizenschaft: die Familie, die Ehre der Familie. Die Brüder sind also nicht nur sich selbst gegenüber verantwortlich, sondern werden zu Repräsentanten einer ganzen Gruppe. „Und das ist ein Wahnsinnsmittel, eine besonders enge Bindung herzustellen.“

Das Wertesystem einer Familie mindert oft die kriminelle Schwere einer Tat

Oft ist es der ältere Bruder, der zu kriminellen Taten anstiftet. Der jüngere bewundert ihn womöglich, und wird so zur leichten Beute. Und der ältere kann sich dann sicher sein, dass er einen treuen Vasallen hat, der nicht abspringt, ein unverrückbar Verbündeter von unbedingter Loyalität. Brothers in crime: Begünstigt wird diese Partnerschaft auch dadurch, dass Familien sehr häufig über ein gemeinsames Wertesystem verfügen. Eine Tat – wie es bei Verbrechen mit islamistischem Hintergrund häufig der Fall ist – wird durch diese übergeordnete Werteorientierung in ihrer kriminellen Schwere gemildert.

Gerade für solche Entlastungsversuche eignet sich Bruderschaft besonders gut. Zum einen entfällt damit das Alleinsein im Verbrechen. Zum anderen, sagt Susann Sitzler, wird in Gesellschaften, in denen die Familie mehr gilt als der Staat, das schlechte Gewissen gegenüber diesem Staat verkleinert. Der Grad der Kriminalität wird gemindert, wenn sie in der Familie bleibt.

Wladimir und Vitali Klitschko sind zusammen mehr als die Addition von vier Fäusten.
Wladimir und Vitali Klitschko sind zusammen mehr als die Addition von vier Fäusten.

© imago/ITAR-TASS

Zugleich aber ist diese Bruderschaft oftmals eine Art Überhöhung. Ein männliches Prinzip erlebt dabei eine Feierstunde. Während Schwestern im Rollenklischee gerne als keifende Weiber dargestellt werden, blähen sich auf der symbolischen Ebene die Brüder zum machistischen Stolz auf: zwei Titanen, zwei Giganten, unbesiegbar, ein Bollwerk, Familien-Beton, an dem sich die Feinde, die Welt da draußen, die Zähne ausbeißen. Wir gegen die anderen.

Die unverwundbaren Klitschko-Brüder

Bruderschaft wird somit zum Titanenprinzip. Das, sagt die Autorin Sitzler, könne man auch jenseits krimineller Verstrickungen beobachten. Etwa bei den Klitschko-Brüdern. Die Doppelung der kraftvollen Fäuste ist mehr als eine Addierung, mehr als eine Summe der Einzelteile, wird vielmehr zur Überhöhung einer Unbesiegbarkeit. Dazu trägt bei, dass die Klitschkos niemals gegeneinander gekämpft haben, dass also keiner dem anderen je eine Niederlage zufügen musste. Das hebt sie heraus vor anderen sportlichen Brüderpaaren – von Fritz und Ottmar Walter bis zu Jerome und Kevin Prince Boateng –, die ja stets eine besonders bewunderte Spezies darstellen. So sind zum Beispiel die beiden Rennfahrer Michael und Ralph Schumacher durchaus gegeneinander angetreten und haben sich damit dem Gesetz des Sports, Sieg oder Niederlage, unterworfen. Die Klitschkos hingegen demonstrierten: Als Brüder sind wir unverwundbar.

Das unbedingte Zusammenhalten, dieses brüderliche Pech-und-Schwefel-Prinzip hat indessen auch eine andere Seite. Nur wenig wiegt schwerer als der Verstoß gegen dieses Prinzip, der Bruderzwist oder gar der Brudermord. Genau deshalb stellt die Erzählung von Kain und Abel einen Gründungsmythos der Menschheitsgeschichte dar. Oder die Ermordung des Remus durch Romulus den Gründungsmythos eines Weltreichs. Die Fallhöhe ist ungeheuerlich, wenn ein quasi naturgegebener Zusammenhalt in Trümmer bricht. Deshalb hat der Bruderzwist auch in der Literatur reichen Niederschlag gefunden, nicht nur im gleichnamigen Drama von Grillparzer, auch etwa in Schillers „Räubern“ sowie seiner „Braut von Messina“, in der „Antigone“, im „Parzival“ des Wolfram von Eschenbach, dazu in vielen Sagen. Und im literarisch wirklichen Leben zum Beispiel in den Streitigkeiten zwischen Thomas und Heinrich Mann. Auch zahlreiche Filme haben das Thema aufgenommen, etwa Viscontis „Rocco und seine Brüder“. Die feindlichen Brüder sind die Kehrseite der unzertrennlichen Brüder.

Schließlich ist die Brüderlichkeit, die fraternité, zum Synonym für die Gleichheit der Menschen ganz allgemein geworden, nicht nur in Schillers „Ode an die Freude“, nicht nur in der „Internationalen“ („Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“). Und sie schließt trotz ihrer männlichen Prägung die sororité, die Schwesterlichkeit, natürlich mit ein. Immer schwingt dabei der solidarische Gleichheitsgrundsatz mit, bei den Klosterbrüdern, den Muslimbrüdern, den Blutsbrüdern, ja sogar bei den Waffenbrüdern.

Wie gefährlich die Unbedingtheit solcher Verbrüderungen ist, weiß indessen der Volksmund: „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.“

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