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Kultur: Das Recht des Böseren

Martin Scorseses aktueller Historienfilm „Gangs of New York“ beschließt die 53. Berliner Filmfestspiele

Das erste Duell hat „Gangs of New York“ schon mal verloren, aber das macht nichts. Es ist das Duell gegen den „Herrn der Ringe“ an den Kinokassen Amerikas. Zeitgleich waren beide kurz vor Weihnachten zur Schlacht um den Zuschauer angetreten: Doch während Peter Jacksons Saga-Sequel mittlerweile in die olympischen Höhen von 320 Millionen Dollar Kino-Einspiel enteilt ist, krebst Martin Scorseses nicht minder monumentales Epos bei 70 Millionen herum, der guten Hälfte seines Budgets. Doch „Gangs“ ist kein Flop – und das nicht nur, weil der Film mittlerweile in manch anderen Ländern erfolgreich gestartet ist. „Gangs“ , die filmische Metapher auf die darwinistischen Ursprünge Amerikas, ist zugleich – ein grausamer Zufall der Zeitgeschichte – die fesselnde Vision davon, wie auch unser ganzer Globus sich gerade darwinistisch-politisch aufs Neue formt. „Gangs“ wächst. „Gangs“ wird überleben, und vom „Herrn der Ringe“ und so manch anderem wird bald keine Rede mehr sein.

Als erster hat Salman Rushdie diese retrospektiv visionäre Kraft des Films erkannt. In der „Washington Post“ vom 25. Dezember verglich er die beiden Kino-Giganten miteinander – und die Klugheit seiner Analyse materialisiert sich Tag für Tag immer mehr. Den „Herrn der Ringe“ mit seiner Achse der Guten, die den bösen Lord Sauron bekämpfen, deutete er knapp als die ideologische Begleitmusik der zum Krieg gegen Saddam Hussein entschlossenen Amerikaner. „Gangs of New York“ dagegen fehle der „moralische Kontrast“. Der Film lasse vielmehr den Schluss zu, alle Kriege seien Kriege zwischen Gangs. „Wir stehen vielleicht vor einem Gang-Krieg von gigantischen Ausmaßen“, schrieb Rushdie, „auch wenn man ihn uns um jeden Preis als einen Krieg von Helden gegen Schurken verkaufen wird“. Kein Wunder, dass der eine Film an der US-Kinokasse explodiere – und der andere eben nicht.

Heute, sechs Wochen weiter, geht es längst nicht mehr um ein paar hundert Millionen Ablass an den Pforten der Fantasieindustrie. Der Krieg gegen den Irak – oder sollte man sagen: das Duell George W. Bush gegen Saddam Hussein – ist unerbittlich herangerückt; und wir Globalkinobesucher mögen ja nach wie vor von der mit Saddam korrekt besetzten Schurkenrolle überzeugt sein, nur der kontrapunktisch gute Held will sich nicht so recht einstellen. Die Welt stellt sich, im Klammergriff der neuen amerikanischen Demokratur, auf einen Kampf Böse gegen Böse ein, oder zumindest auf ein darwinistisches Duell, etwa um den Besitz der irakischen Ölfelder. Dagegen demonstrieren immer mehr Menschen überall in der Welt, auch heute, in Europa und in Berlin. Und wenn Martin Scorseses gewaltiges, bitteres, modernes Historienepos heute abend zum Abschluss der 53. Berlinale gezeigt wird (und nächste Woche in die Kinos kommt), dürfte es – nach der unmissverständlichen Ouvertüre vieler Hollywoodstars während des Festivals – gespenstisch genau die Antikriegsstimmung dieser Tage orchestrieren.

Auch „Gangs of New York“ erzählt, vor dem Hintergrund des amerikanischen Bürgerkriegs, von einem Duell, Böse gegen Böse, Stark gegen Stark – und zugleich von der blutigen, grausamen, eigentlichen Erschaffung dieser Nation. Anders als D.W. Griffith, der vor 90 Jahren in „The Birth of a Nation“ das große Schlachten zwischen Nord und Süd, Schwarz und Weiß nachstellte, wählte Scorsese einen Kriegsschauplatz en miniature und bebildert die Presswehen dieses Amerika als darwinistischen Kampf zwischen Einwanderern: hier die zu „Nativists“ ideologisch hochgerüsteten „Natives“, also jene weißen angelsächsischen Protestanten, die sich als die Herren Amerikas etablierten (und es auch heute noch sind), dort die zu Hunderttausenden ins Land strömenden irischen Katholiken; hier der „Bill the Butcher“ genannte Schlachtermeister und Bandenkönig, dort der Priester Vallon, sein Herausforderer und Anführer der „Dead Rabbits“. Nach wenigen Minuten des Films wird Bill the Butcher Priest Vallon getötet haben, und Vallons Sohn Amsterdam, kindlicher Zeuge des Mordes, wird eines Tages antreten, den Mord an seinem Vater zu rächen.

Der Schauplatz der feuerwaffenlosen Schlacht im Schnee, die den Film nach einer fantastischen Kamerafahrt dramatisch eröffnet, heißt „Five Points“: Kreuzungspunkt von fünf Gassen in den Slums der Lower East Side im New York von 1863. Hier kämpfen die Gangs der Unterschicht, die Vorläufer der Mafia, in offener Gesetzlosigkeit gegeneinander, während eine korrupte Polizei- und Politikerkaste von der gegenseitigen Zerfleischung profitiert. Und fast ausschließlich an diesem Schauplatz – in den Studios von Cinecittà wurde das kleinstädtisch anmutende Ur-Manhattan nachgebaut – spielt dieser 168 Minuten lange Film, den Martin Scorsese seinem Produzenten Harvey Weinstein (noch ein Duell!) abgerungen hat.

Gewaltige Arrangements in Opiumhöhlen, Bordellen, Zirkuswelten und in den Gassen von „Five Points“ bilden den Rahmen der im Kern schmalen Geschichte: Amsterdam (Leonardo DiCaprio) kommt nach 16 Jahren in der Erziehungsanstalt nach „Five Points“ zurück, um Bill the Butcher (Daniel DayLewis) zu töten. Ein vaterloser Junge begegnet einem sohnlosen Mann, und unter dem Mantel der Feindschaft, von der nur Amsterdam weiß und die er in seinem Herzen nährt, wächst eine auch aus wechselseitigem familiären Ersatzbedürfnis entstehende Nähe. Hinzu kommt, einziger love interest in diesem ausgesprochenen Männerfilm, die Taschendiebin Jenny (Cameron Diaz): Einst die Geliebte von Bill the Butcher, fühlt sie sich nun von Amsterdam angezogen.

Man kann unendlich viel gegen diesen Film vorbringen: die Schwäche dieser Liebesgeschichte zum Beispiel, um mit dem Unwichtigsten anzufangen; die dramaturgisch fast verschenkte Tiefe des Konflikts zwischen den Todfeinden Amsterdam und Bill; auch die relativ schwache Performance von Leonardo DiCaprio gegenüber dem offenbar bei den Dreharbeiten todeswütig in seiner Figur aufgehenden Daniel Day-Lewis; die Lust an der Pracht zahlloser Tableaus, mit denen dieser Film zeitweise fast rasend manisch von seiner emotionalen Leere abzulenken sucht; ja, man kann „Gangs“ durchaus böswillig als Budenzauber geißeln, als „Fox’ tönende Wochenschau“ vergangener Jahrhunderte, als gigantischen Fehlschlag, der dem Genre des weitgehend special-effects-freien Monumentalfilm zudem endgültig den Garaus machen dürfte.

Ist „Gangs“, dieses jahrzehntelang gehegte Lebensprojekt Scorseses nach einem Roman von Herbert Asbury, also ein feel bad movie, wie das einflussreiche Branchenblatt „Hollywood Reporter“ schrieb? Ja, sehr. Und doch verwandelt sich dieses Unwohlsein, das seltsam tiefer geht als die Summe der einzelne Einwände, bald in Bewunderung; Bewunderung dafür, gegen welch mörderische Widerstände Scorsese an diesem Projekt festhielt; Bewunderung für das Ergebnis auf der Leinwand selbst; Bewunderung dafür, wie viel der Film uns abseits seiner eigentlichen Geschichte über Amerika zu sagen hat. Ja, das Unwohlsein und das Gefühl äußerster Größe: Sie vertragen sich ganz wunderbar grimmig miteinander.

Mit welchem Mut zum Beispiel verschenkt, ja opfert Scorses einen Showdown, den andere Regisseure bis zum letzten Blutstropfen und Lebensaushauchseufzer auskosten würden! Stattdessen lässt er den Kampf des mächtig morallosen Schurken gegen den selbst zum Schurken gewordenen hehren Rächer einfach zusammenzuschießen von ebenso schurkischen, nur etwas moderneren Leuten. Und so wird das finale Schlachten zwischen Bill und Amsterdam erbarmungslos zur anachronistischen Fußnote: In den Tagen der „Draft Riots“, des kurzen Aufstands gegen die Mobilmachungspolitik der Unionisten, hatten die Armen andere Sorgen als die finale Abrechnung zweier Bandenführer. Es ging gegen das Einberufungsgesetz in Sachen Bürgerkrieg: Während die einen zum Kanonenfutter gemacht wurden, konnten sich Reichere gegen 300 Dollar von der Wehrpflicht freikaufen. Wer denkt da heute nicht an George W. Bush, der zu Zeiten des Vietnamkriegs, als Amerika noch keine Berufsarmee hatte, bei der sicheren Air National Guard Dienst tat?

Ein letztes Duell, noch ein filmisches. Bei den Oscar-Nominierungen hat „Gangs of New York “ den „Herrn der Ringe“ , den Triumphator des Vorjahrs, bereits abgehängt. Nun aber tritt der Film gegen den leicht besser platzierten „Chicago“ an, der Abschlussfilm der Berlinale gegen den Eröffnungsfilm, der fulminante Kommentar des Italoamerikaners Scorsese zu jenem Schlachthaus unter freiem Himmel, das seine Heimat ist, gegen das flotte, glatte, durchaus kunstfertige Entertainment. Aber, um noch einmal mit Rushdie zu reden, Ende März werden uns wohl weniger die Oscars beschäftigen als ein noch „größerer, dunklerer Wettbewerb“. Wenn der bis dahin nicht – noch größer, noch dunkler – schon entschieden ist.

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