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Kultur: Das Schmecken der Zeit

Obsessionen eines Archivars: Die Akademie der Künste würdigt den Schriftsteller Walter Kempowski

Es gibt in dieser Ausstellung ein Foto von Walter Kempowski, auf dem sieht man ihn entspannt auf einem Sofa liegen, und vor und über ihm türmen sich an einer Wand großformatig seine Werkpläne und -diagramme. Das Ganze vermittelt den Eindruck, als sei hier ein Schriftsteller kurz davor, in seinem riesigen, weit verzweigten Werk zu verschwinden. Man fragt sich beim Anblick dieses Fotos und beim Gang durch die gestern Abend von Bundespräsident Horst Köhler eröffnete Ausstellung „Kempowski Lebensläufe“ in der Berliner Akademie der Künste, wie Kempowski dauerhaft den Überblick und alle Werkfäden in der Hand behalten hat? Und man fragt sich, wie es der 78-jährige, schwer krebskranke Schriftsteller geschafft hat, die von ihm lebenslang unternommene Rekonstruktion von Familiengeschichte und deutscher Geschichte bis ins hohe Alter psychisch zu überstehen?

Von Schuldgefühlen, die ihn angetrieben hätten, hat Kempowski oft gesprochen: die Schuld, die Familie zerstört zu haben, Krieg und Nachkrieg überlebt zu haben, die Kollektivschuld der Deutschen überhaupt. Allzu viele Schuldgefühle können manifeste Depressionen verursachen, und genau dagegen hat Kempowski seinen eigenen, vermutlich lebensrettenden Wahnsinn gesetzt, in dem er unermüdlich gesammelt und archiviert, die Zeitgeschichte aufgearbeitet und wieder zusammengesetzt hat. Entstanden ist dabei ein Archiv, das inzwischen aus circa dreieinhalb Millionen Blatt besteht und sich in drei Teile gliedert: in das persönlich-literarische Archiv von Kempowski und seiner Familie, in das „Archiv der unpublizierten Autobiografien“ mit fast 8000 Lebensläufen und in ein Fotoarchiv mit rund 300 000 Fotografien.

Nach jahrelangen Vorarbeiten vertraute Kempowski dieses monumentale Archiv 2005 der Akademie der Künste in Berlin an, und diese hat nun unter Federführung des Kempowski-Biografen und -Mitarbeiters Dirk Hempel 1600 Exponate für die Schau am Pariser Platz ausgewählt. Hempel und der Akademie ist es gelungen, der Ausstellung in fünf hintereinanderliegenden Räumen eine nachvollziehbare Struktur zu geben. Eine Struktur, die mustergültig zeigt, wie sich in Kempowskis Werk eins aus dem anderen ergeben hat, wie sich alles aufeinander bezieht, wie Leben und Werk innigst miteinander verschränkt sind: von Kempowskis achtjähriger Haftzeit in Bautzen wegen vorgeblicher Spionage, der Werkinitiation, bis zum „Echolot“, aus dem im vierten Raum Akademie-Mitglieder vorlesen. Von Kempowskis privaten Sammelobjekten wie Pfeife, Armbanduhr oder Schreibmaschine bis zu den biografischen Zeugnissen der vielen Unbekannten im fünften und letzten Raum. Letztere sind mit den vielen Fotos und den herausziehbaren Schaukästen in ihrer Fülle kaum aufnehmbar. In ihrer Unkommentiertheit folgen sie aber auch einem Diktum Walter Kempowskis: „Als Leser dieser Biografien reagiere ich genauso, wie ich hoffe, daß es die Leser meiner Romane tun: Ich freue mich, wenn ich auf die genaue Reproduktion der Kindheit stoße. Sie läßt mich die Zeit geradezu schmecken, und es ärgert mich, wenn der anonyme Schreiber mir die Fakten vorenthält. In der erzählenden Prosa, und um so etwas handelt es sich bei einer Biografie, will man nicht belehrt sein.“

Die Ausstellung beginnt mit drei eng gestellten, aus Holz gezimmerten, begehbaren Schobern, die Kempowskis Bautzener Haftzeit symbolisieren. Sie zeigen zum Beispiel die Schuhe, die Kempowski bei seiner Entlassung 1956 trug oder den rotmetallenen Spion seiner Zellentür. Gut sichtbar auf einem der Schober ist der Satz „Bautzen war ein Segen für mich“, den Kempowski später sagen wird, der aber relativiert wird von einem Ende März 1956 geschriebenen Brief, in dem er die Jahre tabellarisch Revue passieren lässt. Hier berichtet er von der „schwersten Zeit meines Lebens“, von „Terror, Schikane und Hunger“ bis zuletzt. Mit seinem Ordnungsprinzip verweist dieser Brief auf den zweiten Ausstellungsraum und das, was danach kommen sollte: Kempowskis Schriftstellerwerdung. Dreizehn Jahre vergehen bis zum Erscheinen von Kempowskis Debüt, seinem Haftbericht „Im Block“. In dieser Zeit, da er nach einem Pädagogikstudium in Göttingen Dorfschullehrer in den norddeutschen Örtchen Breddorf, Nartum und Zeven wird, sucht er nach literarischen Ausdrucksmöglichkeiten. Und er schafft sich die Grundlagen für sein Archiv und die sechsbändige „Deutsche Chronik“.

Beeindruckend allein die 45 berühmten „roten Bände“, dem aus der Geschichte der Familien Collasius, Hälssen, Kempowski und Nölting bestehenden Rohmaterial für die „Chronik“, beginnend mit den Befragungen der Mutter, gestützt auf Briefe, entstanden unter Mithilfe vieler anderer Familienmitglieder. Genauso beeindruckend, wie Kempowski seine Lektüre in Notizbüchern festgehalten hat: „Mai 1962, Arno Schmidt, Brands Haide. Juni 1962, James Joyce, Ulysses Juli 1962, Bruno Schulz, Die Zimtläden.“

Kempowski ist ein Monomane, das zeigt insbesondere der große Saal der Akademie, der Kempowskis schriftstellerischem Werk und den Rostocker Biografien gewidmet ist, inklusive Schiffsmodellen, Aschenbechern, Ferngläsern, Stadtplänen und Papiermodellen von Rostock sowie Zigarrenkisten. Es fällt auf, dass es kaum Fotos gibt, die ihn mit Schriftstellerkollegen zeigen: eines mit Uwe Johnson, ein paar aus Nartum, wohin Kempowski zu Literaturseminaren einlud, mehr nicht. Diese Abwesenheit dokumentiert gut die Stellung Kempowskis als Einzelgänger in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, als nicht immer gelittener Außenseiter, gerade unter den vielen explizit linken Kollegen.

Verdächtig machte ihn da nicht nur sein durch die Bautzener Zeit begründeter Antikommunismus, sondern auch sein Erfolg beim Publikum mit den ersten Bänden der Chronik, „Tadellöser & Wolff“, „Uns geht’s ja noch gold“ und „Ein Kapitel für sich“. Dieser Erfolg erreicht seinen Höhepunkt mit der Verfilmung der Romane durch Eberhard Fechner, wie die „Spiegel“-Taschenbuchbestsellerliste vom 4.2.1980 zeigt: Alle drei Romane und auch das mit Fechner herausgegebene Material zur Verfilmung rangieren unter den zehn bestverkauften Taschenbüchern, zwischen Fromm, Konsalik und Bieler.

1980 begann Kempowski dann mithilfe von Zeitungsannoncen konkret mit dem Sammeln von anderen, ihm fremden Biografien. Damals, so berichtet es Kempowski an vielen Stellen seines Werks, gab es erste Gedanken für das „Echolot“, und da begann das Schrifsteller-Ich (das sich ganz offen und mit seinen vielen Unter-Ichs sowieso nur in den Tagebüchern zu erkennen gibt), erstmals offensiv in den Hintergrund zu treten: zugunsten der Geschichte, zugunsten eines vielstimmig erzeugten Erinnerungs- und Gedächnisraums.

Dieser soll nun auch in Zukunft größer und größer werden. Im Rahmen der Ausstellung veranstaltet die Akademie mit Kempowski am 10. Juni einen sogenannten Sammeltag. Alle Menschen mit Migrationshintergrund sind an diesem Tag aufgerufen, Fotos, Briefe und Tagebücher abzugeben, um Eingang in das Kempowski-Archiv zu finden und „um die Veränderung Deutschlands durch die Migrationen der letzten Jahrzehnte angemessen dokumentieren und literarisieren zu können“, wie es heißt. Das ist vernünftig und konsequent. Denn bei der biografisch verständlichen Fixierung Kempowskis auf den Nationalsozialismus, seine Ursachen und Folgen, gerät es schon mal leicht in Vergessenheit: Die deutsche Geschichte endet nicht mit der Wiedervereinigung.

Akademie der Künste Berlin, Pariser Platz 4, bis 15. Juli. Begleitbuch 19,90 €.

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