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Kultur: Das Schmelzen der Zeit

Die Bühnenbildnerin Anna Viebrock entwickelte mit Christoph Marthaler das Stück „+-0“. Nach Stationen in Grönland und Wien kommt das „Subpolare Basislager“ jetzt an die Volksbühne

Frau Viebrock, mit Ihrem neuen Stück unternehmen Sie und Christoph Marthaler eine theatralische Expedition zum Polarkreis. Wie haben Sie die Inszenierung mit Recherchen vor Ort vorbereitet?

Das Stück hat Christoph mit den Schauspielern und Musikern, mit dem Dramaturgen Malte Ubenauf und mir entwickelt. Christoph und ich waren zweimal in Grönland. Vor Beginn der Proben waren wir mit allen Schauspielern und Musikern zehn Tage in dem Ort Illulissat nahe dem Polarkreis. Wir sind Hundeschlitten gefahren und waren beim Inlandeis. Das Nordlicht zu sehen oder Eisberge, die in der Strömung vorbeitreiben, war wahnsinnig beeindruckend. Und dann waren wir sieben Wochen in Nuuk, einer Stadt mit 15 000 Einwohnern, und haben dort in einem Kulturzentrum probiert. Ein Thema war das Gefühl, dass wir da alle abhauen und schwer zu erreichen sind. Im Stück liegen Handys auf dem Boden, die ab und zu klingeln, aber gar nicht mehr wahrgenommen werden. Das waren ein paar Traumbilder: dass man sich ausklinkt und sich möglichst weit entfernt, an einen Ort am Rand der Welt.

Bei Grönland denkt man an Begriffe wie „ewiges Eis“ oder daran, dass das Eis durch den Klimawandel abschmilzt. Ich nehme an, ganz so eindeutig sind die Assoziationen, mit denen Sie auf der Bühne arbeiten, wiederum nicht?

Wir haben das Stück zuerst den Menschen in Nuuk gezeigt, bevor die Aufführung nach Wien ging und jetzt nach Berlin kommt. Wir wollten denen nicht vorführen, was wir über ihr Land denken. So ein kolonialistisches Verhalten geht nicht, so sind wir auch nicht. Wir wollten in Nuuk zeigen, was für ein Theater wir machen, irgendwo in der Nähe des Polarkreises, zusammen mit zwei Schauspielerinnen von dort, die in dem Stück mitspielen. Es ging eher um eine vorsichtige Begegnung und ein langsames Kennenlernen. Deshalb geht es auch nicht um die Themen, die manche vielleicht beim Stichwort „Grönland“ erwarten. Wenn man dort ist, stellt sich alles viel komplexer dar.

Was sind das für undefinierbare Gestalten in Ihrem Stück, die da am Ende der Welt gestrandet sind?

Die kommen total vermummt rein. Bei minus 15 Grad muss man sich dick einpacken. Im Grunde ist das eine Expedition, die in dieser Turnhalle, diesem Basislager auftaucht und sich erst mal mühevoll aus ihrer Outdoor-Kleidung schält. Das An- und Ausziehen aus den vielen Schichten warmer Kleidung nimmt in Grönland viel Zeit in Anspruch. Und dann kann man sehen, was in diesen langen Wintern passiert, an Versuchen, sich zu unterhalten in einer Sprache, die wir nicht verstehen, an Versuchen, in Kontakt zu kommen. Und kaum fängt man an, sich mit Grönland zu befassen, merkt man, dass da gerade wahnsinnig viel passiert. Das Land erlebt einen Aufschwung, jetzt suchen sie da nach Öl und Erdgas. Früher war Grönland wie ein vergessener Kontinent, auf dieser riesigen Fläche von über zwei Millionen Quadratkilometern leben gerade mal 70 000 Menschen. Vielleicht waren wir gerade noch rechtzeitig da, um etwas von diesem vergessenen Grönland kennenzulernen.

Sie und Marthaler arbeiten schon sehr lange mit einer mehr oder weniger festen Gruppe von Schauspielern und Musikern zusammen. Verändert es die Proben, die eingespielten Rituale, wenn Sie statt in Wien oder Paris in Nuuk ein Stück entwickeln?

Irgendwie schon. Es ging nicht nur darum, ein neues Theaterstück zu machen, ich glaube, dass sich alle freuten, dieses fremde Land kennenzulernen und sich darauf einzulassen. Dass gleich neben der Stadt diese gewaltige Eisfläche beginnt, geht einem nicht aus dem Kopf. An dieser unglaublich schönen Natur kann man sich nicht satt sehen. Ich glaube, ich könnte Monate da stehen und diesen Eisbergen zusehen. Zu Grönland gehört für mich auch, dass ich in einen Schneesturm geraten bin. Ich war dick eingepackt und wollte im Ort ein Geburtstagsgeschenk kaufen. Im Schneesturm sieht man nichts mehr, man merkt kurz, wie schnell man da verloren gehen kann.

Wie geht es Ihnen damit, dass nach vielen Jahren wieder eine Inszenierung von Christoph Marthaler in Ihrem Bühnenbild in die Volksbühne kommt?

Schön ist das natürlich. Wir haben zwar in Grönland geprobt, aber das Bühnenbild wurde komplett in den Werkstätten der Volksbühne gebaut und dann dorthin transportiert. Das hatte für mich etwas sehr Beruhigendes, wenn man sich schon auf so ein Abenteuer einlässt, eine Inszenierung in Grönland herauszubringen.

Sie zeigen im Pavillon neben der Volksbühne einen großen Eisblock. Was hat es damit auf sich?

Das war ein Vorschlag des Produzenten und der Transportfirma. In den Containern werden immer nur Dinge nach Grönland gebracht, weil fast alles aus Dänemark importiert werden muss. Danach fahren die Container leer zurück. Das Einzige, was Grönland in großen Mengen hat, ist Eis. Das hat die Transportfirma nun in den leeren Containern nach Berlin gebracht. Man könnte sagen, dass das ziemlich unkorrekt ist, Eis, das dann hier schmilzt, aus Grönland zu importieren. Andererseits: Das Eis ist von den Eisbergen abgebrochen, das wäre eh geschmolzen. Die ganze Installation ist nichts als 20 000 Jahre altes Eis, das gerade schmilzt.

Wenn Eis schmilzt, geht ein Stoff von einem Aggregatzustand in einen anderen über, einfach durch Temperaturveränderung und das Vergehen von Zeit. Das geschieht oft auch mit den Figuren in den Stücken von Ihnen und Marthaler: Durch das Vergehen von Zeit ändern sich ihre emotionalen oder körperlichen Aggregatzustände.

Der Titel „+-0“ spielt mit dieser Schnittstelle, an der sich Zustände ändern, zum Beispiel von fest zu flüssig, von Eis zu Wasser. Das Thema Aggregatzustand war auch einer von mehreren gedachten Untertiteln. Eine schöne Geschichte über das Eis haben die Grönländer erzählt: Es gibt ein besonderes, bläuliches Eis, das aus gepresstem Schnee entsteht. Das wollte jemand vermarkten und in Europa als edle Eiswürfel für Whisky-Liebhaber verkaufen. Das Problem war das Haltbarkeitsdatum, das Lebensmittel brauchen, das verlangt die Bürokratie. Was aber gibt man als Haltbarkeitsdatum für Eis an, das zigtausend Jahre alt ist? Daran ist das Geschäft gescheitert.

Interview: Peter Laudenbach. Premiere am 8.9. in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Wieder am 9., 10., 11. 9.

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