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Kultur: Das schöne Spiel stirbt nie

Kafka prophezeite seinen Tod. Doch der Fußball gehört zum Leben. Morgen startet die Bundesliga – eine kurze Geschichte der runden Welt

Von Markus Hesselmann

Einer hatte es schon 1923 geahnt. „Vielleicht hört der Fußball jetzt überhaupt auf“, schrieb Franz Kafka damals. Der Dichter hat das womöglich ganz anders gemeint, wie er so vieles ganz anders meinte. Doch dieser Stoßseufzer eines kritischen Fans – Kafka unterstützte den Wiener Verein Hakoah – wird immer wieder verwendet, wenn es darum geht, den Untergang oder zumindest den Niedergang des Fußballs zu prophezeien. Kommerzialisierung, Medienhype, Schwarzgeldaffären – das schöne Spiel, the beautiful game, wie es die Engländer nennen, galt immer als krisenhaft. Als es jenseits des Kanals schon eine funktionierende Profiliga gab, wurde Fußball in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „englischer Aftersport“ geschmäht. Das Gebolze auf schlammigen Äckern ließ sich so gar nicht mit dem Ideal der Turnbewegung in Einklang bringen. Der deutsche Turner machte seine Sache um ihrer selbst willen oder aus Liebe zum Vaterland. Jedenfalls nicht aus sportlichem Ehrgeiz oder gar für Geld. Leibesübung für Helden statt Sport für Händler.

Das Fußballspiel, das englische Studenten in Deutschland zuerst den Berlinern auf dem Tempelhofer Feld beibrachten, war aber nicht klein zu halten. Doch wenigstens sollten sich in Deutschland Fußball und Geld fortan ausschließen. Kommerz gehört sich nicht. Da führt eine Linie von den nationalistischen deutschen Turnern zur Kulturkritik der 68er und ihrer Nachfolger. Natürlich hielt sich niemand an diese hehren Maximen. Die erste Schwarzgeldaffäre des deutschen Fußballs wurde 1930 aufgedeckt. Schalke 04 hatte unter der Hand zu hohe Spesen an die Spieler bezahlt. Die Fußballer aus dem Revier, die gerade ihren Siegeszug begannen, wurden zu Berufsspielern erklärt und für eine Saison vom Spielbetrieb ausgeschlossen. Schalkes Schatzmeister Willi Nier ertränkte sich im Rhein-Herne-Kanal. Zum ersten Spiel nach Ablauf der Sperre kamen 70 000 Zuschauer in die viel zu kleine Schalker Glückaufkampfbahn.

Das Amateurideal wurde sogar noch bei der Gründung der Bundesliga 1963 beibehalten. Zwei Jahre später wurde Hertha BSC zum Zwangsabstieg verurteilt, weil der Berliner Klub zu hohe Handgelder bezahlt hatte. Erst mit Einführung des Vertragsfußballers zu Beginn der Siebzigerjahre durfte endlich offen geschehen, was zuvor schon verdeckte Praxis war. Der deutsche Fußballer wurde zum Profi. Plötzlich waren die Kicker Popstars und fuhren im offenen Sportwagen durchs Land. Auf Günter Netzer, den Brian Jones des Fußballs, konnten sich auch die Linken einigen. Die Aufsteiger der Sechzigerjahre übernahmen die kulturelle Hegemonie. Die Bayern waren die Beatles, Borussia Mönchengladbach die Rolling Stones. Die einen erfolgreich, die anderen revolutionär. Nach den vergleichsweise braven Sechzigern entwickelte sich in den Siebzigern nicht nur in den Discos, sondern auch in den Fankurven eine neue Jugendkultur. Anstelle regendurchnässter Trenchcoats tauchten selbstgemachte „Kutten“ auf: Jeanswesten und -jacken voller Aufnäher und Anstecker. Dazu strickte Oma den Schal in den Vereinsfarben. Merchandising hausgemacht.

Doch nach der WM-Pleite 1978 mit der peinlichen Niederlage gegen Österreich schien es erstmal vorbei mit der Fußball-Herrlichkeit. Daran konnte auch der Gewinn der Europameisterschaft 1980 nur wenig ändern. Die Generation nach Beckenbauer und Netzer wurde von Spielern wie dem Kopfballungeheuer Horst Hrubesch, dem rotbackigen Pennäler Karl-Heinz Rummenigge und dem Kölner Proll Harald Schumacher geprägt. Statt Toren und Doppelpässen wurden jetzt immer öfter die Gehälter zum Thema: Sechsstellige Jahreseinkommen wurden schon damals erreicht. Der Deutsche Fußball-Bund sorgte sich, denn der Zuschauerschnitt sank nach 1978 kontinuierlich von fast 26 000 pro Spiel bis auf unter 18 000 Mitte der Achtzigerjahre. Gegengesteuert wurde mit Maßnahmen, die aus heutiger Zapper- und Surfersicht rührend wirken. So verbot der DFB seinerzeit, die erste Halbzeit live im Radio zu übertragen. Die lieben Fußballfreunde sollten doch bitteschön das samstägliche Wagenwaschen und Radiohören sein lassen und stattdessen wieder ins Stadion strömen.

Doch die Fans kamen auch so zurück – und der Fußball bewies, dass er im Kern gesund und unverwüstlich ist. Es war paradoxerweise die Medienrevolution in den Achtziger- und Neunzigerjahren, die dabei half. Bald schon galt es als schick und schwer kritisch, sich über die Fußballshows der Privatsender RTL und Sat.1 zu mokieren und die Sportschau zu verklären. Gelehrte Fachbücher hatten in jenen Jahren Titel wie „Der gezähmte Fußball“ oder „Kein Mann, kein Schuß, kein Tor. Das Drama des deutschen Fußballs“. In der Logik der Hüter des Wahren und Guten, nach der zu viel Fußball im Fernsehen das Volk vom Fußball entfremdet, hätten die Stadien bald wüstenleer sein müssen. Doch das Gegenteil passierte: In den Neunzigern, als sich das Privatfernsehen so richtig durchsetzte und konsequent „alle Spiele, alle Tore“ übertrug, stieg der Zuschauerschnitt in den Stadien erstmals über die 30 000er-Marke. Dort stand er auch in der vergangenen Saison.

Die Fans können sich schlicht nicht sattsehen am schönen Spiel, trotz aller Klagen über die Inflation mit Zweiter Liga am Montag und Europapokal von Dienstag bis Donnerstag. Denn wer wollte heute noch ernsthaft zurück zur Sportschau mit den Fußballbeamten Huberty und Faßbender, ihren drei lieblos zusammengeschnittenen 1:0-Berichten und den restlichen „Begegnungen“ als Ergebnisübersicht? Den Fußballboom der Neunziger kühlten selbst die gescheiterten WM-Expeditionen der deutschen Elf 1994 und 1998 nicht ab.

Dabei war doch nichts mehr wie zuvor. Lange galt als gesichert, dass Fußballfans einen regionalen Bezug brauchen, um sich mit ihrer Mannschaft zu identifizieren. Nun aber kamen die Spieler plötzlich von überall her. Brüssel hatte aus arbeitsrechtlichen Gründen alle nationalen Quoten innerhalb der EU verboten. Der Fußballverband dehnte die Regelung konsequent auf ganz Europa aus. Ausgerechnet bei Schalke 04 spielte sich 1997 eine Mannschaft aus Holländern, Belgiern und Tschechen mit dem Sieg im Uefa-Pokal direkt in die Herzen der Fans. Auf Kohle geboren war in diesem Team nur noch Mannschaftskapitän Olaf Thon. Doch Professor Thon war längst von dem belgischen Arbeiter Marc Wilmots als wichtigste Identifikationsfigur verdrängt worden. Auf die Typen kommt es eben an, nicht auf die Herkunft. Beim Deutschen Meister Borussia Dortmund brillieren heute keine Libudas mehr, sondern Brasilianer. Und die werden auf dem Borsigplatz genauso enthusiastisch gefeiert.

Die Fans gingen mit solchen Entwicklungen ironisch-distanziert um. Als etwa bei Eintracht Frankfurt mit Anthony Yeboah erstmals ein Afrikaner Mannschaftskapitän und bester Torschütze wurde, fand sich der Fanklub der „Zeugen Yeboahs“ zusammen. Wenige Jahre zuvor hatte sich der gleiche Yeboah in deutschen Stadien noch Schmährufe und Affenlaute anhören müssen. Dass der alltägliche Rassismus in den Stadien zumindest zurückgedrängt wurde, ist nicht zuletzt das Verdienst einer über Jahre gewachsenen Fankultur. Deren führende Köpfe haben erkannt, dass Chauvinismus – gerade im neuen, globalisierten Fußball – dumm, absurd und anachronistisch ist.

Als Medium hatten diese Fans schon früh das Internet für sich entdeckt. Lange bevor Vereine und Spieler ihre hochoffiziellen Seiten schalteten, trafen die Fans ihre Verabredungen zu Auswärtsfahrten auf chaotisch-fantasievollen Homepages, den virtuellen Erweiterungen von Fanzines wie „Schalke Unser“, „Der Übersteiger“ (FC St. Pauli) und „Erwin“ (Kickers Offenbach). In den Stadien machte sich eine neue Fankultur breit, die zum Beispiel gegen die Abschaffung der preiswerten Stehplätze zugunsten teurer Sitzplätze und Logen vorging. Zuletzt traten Fans mit der „Pro 15.30“-Bewegung in Erscheinung, die für die traditionelle Anstoßzeit am Samstagnachmittag kämpft.

Die Fankurve wird gebraucht, gerade um die neue Ereigniskultur zu befördern. Nick Hornby hat das in „Fever Pitch“ schon vor zehn Jahren beschrieben: Die Tribünen- und Logenbesucher zahlen ihren Eintritt nicht nur, um den Fußballern zuzusehen. Sie wollen den Fans auf den billigen Plätzen dabei zusehen, wie sie den Fußballern zusehen – wie sie die Fußballer anbrüllen und sich an ihnen abarbeiten. Auch eine Übertragung im Fernsehen wäre nichts ohne die harte Arbeit in den Kurven. Die Fans liefern zum Bild die Atmosphäre frei Haus. Die Vereine haben das erkannt und die totale Versitzplatzung gestoppt. Einmal mehr zeigt die selbstheilende Kraft des schönen Spiels Wirkung. Der Fußball, der hört noch lange nicht auf.

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