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Kultur: Das singende Klassenzimmer

Der „Ring“ in Bayreuth: Beim „Siegfried“ zeigt sich Richard Wagners komische Seite

Mit „Siegfried“ kommt die Sucht. Was sollen einem der geschundene Rücken, die stickige Luft, die längst nicht mehr so verführerischen Bratwurstdüfte rund ums hohe Haus: Man will es, man muss es haben. Möchte ertrinken in den höllischen Längen. Muss der Menschheitsmachtfrage auf den letzten, bitteren Grund gehen, wohl wissend, dass der „Ring“ jede Antwort verweigert. Kann das Dasein überhaupt nur noch in Zweierbeziehungen denken (von Mime/Siegfried bis Siegfried/Brünnhilde) – und erkennt alsbald, wie fatal es ist, wenn Lebensgeschichten, Erwartungen, Triebe unvermittelt aufeinander zu rasen, ohne Einlenken oder gar Todesängste.

„Siegfried“ als erotische Fantasie? Das ganze Stück gipfelt in der Erweckung Brünnhildens, im finalen Liebessturm zwischen ihr und Siegfried, dem Lichtsohn und Weltenretter. Wer im Saal wollte nicht, dass die orgiastischen Wogen dieser Lust hoch über ihm zusammenklatschen, alles Weh und Ach, jedes Gedächtnis löschend, begrabend. Und natürlich meint Wagners Rätselwort vom „unsichtbaren Theater“ auch dies: Die Realität gegen die Kunst eintauschen, die Bühne dem Leben in ihrer Natürlichkeit so ähnlich werden lassen, dass der Weg zurück, nun ja, schwer fällt, wenn nicht gar sich erübrigt. Wagner mache krank, befand einst der böse Nietzsche, und wenn man aus dem „Siegfried“-Schluss („leuchtende Liebe, lachender Tod!“) hinaus in die Bayreuther Nacht vor die nächstbeste Limousine taumelt, dann spürt man wohl, was er gemeint hat, und erschrickt.

Mit dem, was die Wagner-Rezeption – namentlich die Dirigenten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – aus diesen Maximen an ästhetischer Legitimation zog, hat Christian Thielemann nichts im Sinn. Und das ist das Ereignis dieses Bayreuther „Rings“. Thielemann und das Festspielorchester, dieses alte neue Zaubergespann, werden niemals allgemein, sind nie fett im Klang und nie dürr und höchst selten nur laut (so erreicht das energetische g-Moll Vorspiel zum dritten Akt immerhin ein Forte, ebenso der Drachenkampf, in dem Siegfrieds Horn und Schwert dem Riesenwurm-Motiv blitzende Spitzen aufsetzen). Wo andere durch Klangmassierung zu überwältigen trachten und wieder andere durch ein strukturelles Entbeinen, ein kalt-lüsternes Obduzieren der Partitur, nimmt Thielemann die Wagnerwelt bei der Hand. Vergesst alles martialische Säbelrasseln und alle Mathematik, sagt er, in diesen Noten steht alles drin. Diese Musik lebt. Und redet. Wir müssen ihr nur zuhören.

Im „Siegfried“ – von Wagner selbst als „Intermezzo“ bezeichnet – scheint dieser neue alte Wagner-Stil in der Tat besonders angebracht. Obwohl es zwei Tote gibt und Wotan, als mürrisch-melancholischer Wanderer durch die Welt stapfend, mit dem Konzept des Enkels als Erlösers hadern muss, ist das Stück doch im Grunde eine Buffa. Vom Schmieden des Schwerts über Alberichs Wacheschieben vor der Neidhöhle bis hin zur Zerschlagung des göttlichen Speers: Stets wird die Handlung durch eine gewisse komische Vergeblichkeit und Hybris vorangetrieben.

Diese Ambivalenzen sind es, denen sich Thielemann mit Hingabe widmet. Wenn die Klarinetten einen zu Siegfrieds „Wo hast du nun Mime dein minniges Weibchen, dass ich es Mutter nenne?“ neckisch an den Fußsohlen kitzeln; wenn dem Wanderer von der göttlichen Anmutung lediglich der Auftritt wie auf Stelzen geblieben ist, pompös, doch innerlich geborsten, harmonisch längst vergiftet; oder wenn sich im idyllischen Waldweben des zweiten Aktes, kurz vor der ersten Bluttat, regelrecht Moosgeruch breit macht und wonniges Ameisenkrabbeln. Der doppelte Boden, wer hätte das gedacht, als Thielemanns Trampolin.

Das Sängerensemble weiß es seinem Kapellmeister erneut auf Knien zu danken. Was Gerhard Siegel (Mime) und Stephen Gould (Siegfried) im ersten Akt an Hassbeziehung und Häme, an Mordlust, Tücke und kindischer Quälgeisterei auffahren, gehört zweifellos zum Besten, was hier überhaupt geboten werden kann. Und sogar die Regie regt sich ein wenig in ihrem Wachkoma (wobei man einmal mehr den Verdacht nicht los wird, die Sänger hätten für die meisten munteren Aktionen selbst gesorgt). Vor allem Siegel entpuppt sich als Charakterdarsteller erster Güte: ein wendiges, witziges Kerlchen, den Klagelaut der geschlagenen Kreatur fest im stimmlichen Habitus verankert, den Text überdeutlich auf den Lippen. Und auch Gould – am Broadway geschult, mit einem sehr baritonal gefärbten Material ausgestattet – macht seine Sache gut. Ein metallisch gleißender Heldentenor ist er nicht. Die Höhen aber, wiewohl ein wenig guttural verdruckst, kommen sauber. Und als er sich im dritten Akt einmal verkiekst, weiß er so klug zu disponieren, dass er die Ziellinie dennoch siegreich passiert.

Vor diesen beiden (aber auch vor Falk Struckmann, Andrew Shore, Jyrki Korhonen, Mihoko Fujimura und Linda Watson) verneigt Thielemann sich auf seine Weise: mit ein paar Takten des orchestralen Siegfried-Idylls, die einem in ihrer Demut, ihrem zarten Liebeswillen die Tränen in die Augen treiben. Musik wie rettungslos für diese Welt verloren.

Wo das Ganze spielt? In der Ruine eines Klassenzimmers; unter einer Autobahnbrücke mitten im Wald; auf dem bekannten Brünnhilden-Felsen. Ansonsten dürften sich Tankred Dorst und sein Bühnenbildner Frank Philipp Schlössmann mit dem Postulat des „Unsichtbaren“ nicht groß herumgeschlagen haben. Spätestens hier aber wird’s ideologisch: Was ist denn nun realistisches, unopernhaftes Musiktheater? Die gleichsam naive Rückkehr zum Werk, in die märchenhafte Parallelwelt der Götter, Zwerge und Riesen? Die Absage an vermeintliche Interpretationsexzesse mag das eine sein; Text- Erfüllung ist das andere. Davon war in Bayreuth bislang nichts zu merken. Aber noch hat der „Ring“ sich ja nicht geschlossen.

Christine Lemke-Matwey

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