zum Hauptinhalt

Kultur: Das Stocken ist der Rhythmus der Welt

„Die Teile und das Ganze“: Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach präsentiert eine Ausstellung über die österreichische Moderne

Ein richtiger Chartbreaker in der ewigen Hitliste mit Adorno-Zitaten ist der folgende, Hegel auf den Kopf stellende Aphorismus aus den „Minima Moralia“: „Das Ganze ist das Unwahre.“ Eine grundlegende Erfahrung auch der Kunst der Moderne ist darin aufgehoben: Die Vorstellung einer vollkommenen Ganzheit, die immer mehr bedeutete als ihre einzelnen Teile, wurde spätestens um das Jahr 1800 herum fragwürdig. Die Fragmentierung der Wirklichkeit – Luhmann spricht von einer Abnahme der „Richtlinienkompetenz“ der Vergangenheit und von einer Zunahme der „Unsicherheit der Zukunft“ – fragmentiert auch das künstlerische Werk. In der Geschlossenheit liegt zumindest für avancierte Künstler kein Versprechen mehr, nur mehr eine fahle Illusion.

Mit genau dieser Problematik, der Dialektik von Teil und Ganzem, beschäftigt sich nun eine Ausstellung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Der Fokus richtet sich dabei auf die literarische Moderne in Österreich, was zum einen den simplen Grund hat, dass die Schau vom Österreichischen Literaturarchiv gestaltet wurde. Zum anderen rührt die Konzentration auch daher, dass die österreichische Literatur hinsichtlich des Wechselspiels von Teil und Ganzem natürlich einiges zu bieten hat: Kafkas allesamt unvollendet gebliebene Romane etwa, Robert Musils Ringen um die Vollendung des „Mann ohne Eigenschaften“ oder auch Konrad Bayers Roman „der sechste sinn“, in dem Ich und Welt bis ins Kleinste voneinander geschieden werden und sprachliche Gewissheiten fast zur Gänze verschwinden. „WERDEN DIE MITTEL KOMPLEXER, SO WERDEN DIE PROBLEME KOMPLEXER / ABER MAN MUSS VERSUCHEN DIE DINGE IM ZAUME ZU HALTEN“, heißt es in einer Notiz zum „sechsten sinn“.

Die Dinge im Zaum zu halten: Genau das gelingt kaum mehr. Gerade in Österreich – man denke an Hugo von Hofmannsthals Andreas-Roman, an Hermann Broch, an Thomas Bernhard oder Ingeborg Bachmann - scheint die sprach- und materialbewusste Literatur eine Spannung zu erzeugen: zwischen dem Willen zum Ganzen und dem Hang zum Fragment. Manchmal kippt es mehr in die eine, manchmal in die andere Richtung. Oft aber lässt sich im Schreiben, im Schreibprozess und auch in der Schrift selbst diese produktive Ambivalenz erkennen. „Die Werke“, stellt Wendelin Schmidt-Dengler in seinem Katalog-Beitrag fest, „kommen auf halbem Wege ins Stocken, weil die Kritiker und mehr noch die Schöpfer selbst im Wissen um die Gefahren der Arbeit und im Wissen um alle ihnen verfügbaren Mittel die Ansprüche nicht einlösen können und die eigene Leistung nicht durch den falschen Schein eines Ganzen hinfällig machen wollen.“

Die von Bernhard Fetz und Klaus Kastberger kuratierte Ausstellung und mehr noch der ausführliche Katalog machen dieses teils geplante, teils unbeabsichtigte Scheitern als eine grundlegende Eigenschaft der Literatur der Moderne kenntlich: Indem Manuskriptseiten, durchgestrichene und immer wieder umgearbeitete Passagen, Entwürfe, Vorstufen und riesige Planskizzen (etwa zu Doderers „Die Dämonen“), Bausteine zu Romanen und Gedichten, intermediale Verweise (wie etwa bei Horváths „Die Mädchenhändler“) und Textvarianten in den Vitrinen nebeneinander gestellt werden, entsteht anschaulich der Eindruck des Aufgesprengten. Als Piktogramm behauptet dies auch das knallig orangerote Plakat zur Ausstellung, das man ansonsten in den österreichischen Alpen finden dürfte: „Achtung Sprengung“. Was zu sehen ist in dieser Schau, sind Splitter – Fragmente einer Sprache der Moderne.

Das ist reizvoll, wenn man Geduld mitbringt. Es geht um den Text, um Textstücke, um Textfetzen, um das Papier als Körper, an dem chirurgische Eingriffe vorgenommen werden: Überschreibungen, Verschiebungen, Aus- und Beschneidungen. Man muss sich mit den Topografien der Textwelt auseinandersetzen und gewinnt so Einblick in die Werkstatt der Autoren. Visuelle Sensationen oder ein multimediales Feuerwerk darf man nicht erwarten. Selbst auf die Österreicher färbt die pietistische Strenge Marbachs ab. Die einzige Anbiederung an eventorientierte Ausstellungen, wenn man so will, besteht in einer Videoaufzeichnung von Konrad Bayers Experimentalfilm „Sonne halt!“ oder einer Sprachaufnahme mit Lautgedichten von Ernst Jandl. Passend dazu findet sich in der Vitrine die Partitur eines Hörstücks von Ernst Jandl, die deutlich macht, wie musikalisch seine Texte gedacht sind.

Auch mit Bebilderung wird sparsam umgegangen; nichts soll vom Eigentlichen ablenken. Wenn doch Fotografien ausgestellt sind, dann lässt sich daran durchaus etwas Symptomatisches ablesen. Da kann man etwa Elias Canettis Schreibtisch abgebildet sehen, der sich durch eine gewisse Akkuratesse auszeichnet: Die Bleistifte sind in Reih und Glied angeordnet, nicht einmal der Ansatz von Durcheinander ist zu erkennen. „Bevor ich das leiseste unternehmen kann, muss ich reinen Tisch haben“, schrieb Canetti einmal. Im Kopf dagegen nehmen die Gedanken die verwinkelsten Formen an. Bei Friederike Mayröcker hingegen herrscht – vermeintlich – ein Chaos. Ihr Arbeitszimmer gleicht bekanntlich einer immer weiter anwachsenden Schutthalde, einer Baustelle, an der nicht systematisch gewerkt, sondern in einer wirren Bewegung Material abgelagert wird. „Ich habe überhaupt keinen Platz mehr, muss an den äußersten Rand rücken“, schreibt sie in „Lection“.Wenn ein Buch abgeschlossen ist, werden Wäschekörbe mit Notizen, Entwürfen und Varianten in die Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek verfrachtet.

Um die Bändigung des Materials geht es also ganz wesentlich in einer unübersichtlichen Moderne – und um die immer präsente Einsicht in die Unmöglichkeit dieses Vorhabens. Die Macher der Marbacher Schau sowie des hervorragenden Begleitbuchs stellen nicht unbedingt neue Thesen auf, aber sie gewähren intensive Einsichten ins Laboratorium der Schriftsteller und verfolgen so den Formungs- und zuweilen auch Deformationsprozess des Schreibens mit.

„Die Teile und das Ganze. Bausteine der literarischen Moderne in Österreich", Deutsches Literaturarchiv Marbach, bis 31. Oktober, tgl. 10-18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr. Katalog im Zsolnay Verlag, hg. von Bernhard Fetz und Klaus Kastberger, 17,90 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false