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Kultur: Das Unrecht der anderen

„Auffangbecken für unliebsame Juristen“: Felix Busses Geschichte der Deutschen Anwaltschaft in Ost und West

Der Bonner Anwalt und frühere Präsident des Deutschen Anwaltsvereins (DAV), Felix Busse, hat eine voluminöse Gesamtübersicht über die Geschichte der deutschen Anwaltschaft seit dem zweiten Weltkrieg vorgelegt. Inkorporiert in die fast 700 Seiten ist auch eine 200 Seiten umfassende Darstellung der Entwicklung der Anwaltschaft in der DDR, einschließlich ihres Überganges in die Bundesrepublik. Allein dieser Teil der Untersuchung schließt verdienstvoller Weise mehrere zeitliche Lücken. Denn bisherige Darstellungen wie die von Thomas Lorenz haben sich vor allem mit der Frühphase der DDR-Justiz beschäftigt, als die Einzelanwaltschaft durch die quasi genossenschaftliche Form der Kollegien in den 15 Bezirken der DDR abgelöst werden sollte. Andere Arbeiten wie die von Peter-Andreas Brand beziehungsweise Franz Norbert Otterbeck gehen zwar auf Teile der 1980er Jahre ein, akzentuieren aber stark die normative Ebene und erschließen nicht die seit 1990 zugänglichen Akten.

Busse hat hingegen sogar noch unerschlossene Justizakten aus dem Bundesarchiv ausgewertet und diese durch Interviews mit mehren ehemaligen DDR-Anwälten – zumeist der Vorstandsebene der Kollegien – ergänzt. Insofern ist ein Gesamtüberblick entstanden, der dennoch nicht immer befriedigt. Beispielsweise vertritt Busse die These, dass es den Kollegien, wie formal zugestanden, weitgehend gelungen sei, selbst zu bestimmen, wen sie als Anwälte in ihren Reihen aufnahmen. Einen gewissen Einfluss von Justizministerium, Partei und MfS konstatiert zwar auch er, wertet diesen aber als nicht dominant. Dadurch kann er aber nicht erklären, warum der Anteil an SED- Mitgliedern unter den Kollegiumsanwälten kontinuierlich auf 71 Prozent stieg. Diese Entwicklung entsprach den Erwartungen der Partei, die mit dem Instrument der SED-Mitgliedschaft über Parteileitungen und Parteiversammlungen in den Kollegien die Mitgliederversammlungen zu dominieren versuchte.

Freilich ist dieser Prozess – wie auch Busse konzediert – komplizierter und widersprüchlicher als sich mancher die Herrschaftspraxis von Parteidiktaturen vorstellt, denn Vorstandswahlen waren in den späteren Jahren überwiegend geheim, enthielten also gewisse Momente der Unberechenbarkeit. Dennoch vermittelt seine Behauptung, die Vorsitzenden seien im Konsens mit der Mitgliedschaft gewählt worden, einen zu harmlosen Eindruck. Der Kollegiumsvorsitz war eine Position der Bezirksnomenklatura, die des Vorsitzenden des Rates der Vorsitzenden sogar eine ZK-Nomenklatur, was bedeutet, dass ohne Prüfung durch die SED, das Justizministerium und das MfS in der Regel ein Kandidat für die Wahl nicht einmal nominiert werden konnte. Die vor einigen Jahren von dem gerade verstorbene Wissenschaftler Bernd Eisenfeld publizierte Angabe, nach der 39 Prozent der Vorstände und ein bemerkenswerter Anteil der Vorsitzenden mit dem MfS kooperiert habe, wischt Busse, ohne sie geprüft oder widerlegt zu haben, zur Seite. Mehrfach hebt er hervor, dass der SED- und vor allem der Einfluss des MfS nicht mehr verlässlich nachweisbar seien. Allerdings scheint er die einschlägigen SED-Akten gar nicht und von den MfS- Akten nur die ausgewertet zu haben, die aus der Sekundärliteratur schon bekannt sind.

Mit der in der gesellschaftswissenschaftlichen Literatur breit diskutierten These, ob es gelungen sei, eine „sozialistische Anwaltschaft“, wie von Hilde Benjamin vorgedacht, zu etablieren, setzt Busse sich nicht systematisch auseinander. Seine fast hymnische Behauptung, die Anwälte hätten am anderen Ende des Stranges gezogen als die SED und die meisten hätten mit „aufrechtem Gang“ ihre Anwaltspflichten erfüllt, trägt mangels empirischer Fundierung und ohne die Untersuchung der Rolle des Anwälte im Justiz- und Herrschaftssystem der DDR eher Züge eines anwaltlichen Plädoyers. Die in Teilen sehr kritische Sicht der Mandanten, die zumindest für die politischen Prozesse breit dokumentiert ist, berücksichtigt Busse nicht.

So zeichnet der Autor über weite Strecken ein Bild, wonach auf der einen Seite die Anwälte standen und auf der anderen Seite die DDR-Apparate, ohne die Frage aufzuwerfen, ob nicht die konsequente Elitenauswahl auch zu weitgehenden Übereinstimmungen führen konnte beziehungsweise geführt hat. Die Ablösung des Berliner Vorsitzenden Häusler etwa gerät bei ihm zu einer Art Piratenakt der Anwaltsgruppe um Gregor Gysi, seinerzeit „Viererbande“ genannt, die statt seiner den ihr genehmen Friedrich Wolff inthronisiert hätte. Dass der standesrechtlich engagierte, aber sittenstrenge und daher als „Ajatollah“ apostrophierte Friedrich Wolff als Vorsitzender und der quirlige Gregor Gysi als SED-Parteisekretär den Erwartungen der orthodoxen ZK-Abteilung für Staat und Recht voll entsprochen haben, lässt Busse, der die entsprechende Primärquelle kennt, unter den Tisch fallen. Bei ihm erscheint die Anwaltschaft als ein dem Apparat gegenüberstehendes „Auffangbecken für unliebsame Juristen“, wie Busse zustimmend Friedrich Wolff zitiert. Dass Gregor Gysi angeblich nicht hätte Richter werden dürfen und daher auf den Anwaltsberuf ausweichen musste, ist einer der biographischen Belege für diese ungewöhnliche These. In seiner Autobiographie rühmt sich Gysi im Gegensatz dazu, wie listig er die Ochsentour durch den Justizapparat vermeiden und den von ihm ohnehin angestrebten begehrten Anwaltsberuf direkt ergreifen konnte. Busse ist an manchen Stellen offenkundig der unbestreitbaren Beredsamkeit seiner Interviewpartner erlegen.

Dieses wohlwollende Bild der DDR- Rechtsanwälte ist möglicherweise auch in der Rolle des Autors selbst begründet. Anfang der 1990er Jahre gehörte Busse als Vizepräsident des (West-)Deutschen Anwaltsvereines zu denen, die den Kollegiumsanwälten aus dem Osten und den inzwischen zu Anwälten mutierten Ex- Richtern, Staatsanwälten, Justitiaren und Stasijuristen eine vergleichsweise weiche standesrechtliche Landung in Gesamtdeutschland ermöglicht haben. Diese Linie findet nun ihre Entsprechung in einer eher milden, manchmal sogar euphorischen Betrachtung seiner ostdeutschen Kollegiumskollegen. Es gab nach Busse zwar Unrecht – verdienstvoller Weise listet er die Schicksale von politisch disziplinierten Anwälte auf –, aber dieses Unrecht war laut seiner Darstellung von anderen verursacht, nicht von Anwälten selbst. Disziplinarverfahren seien „fair“ durchgeführt worden. War es so?

Es bleibt das Verdienst Busses, einen instruktiven umfangreichen Handbuchartikel zum Thema verfasst zu haben, an dem künftige Arbeiten zu diesem Berufsstand, der kaum mit simplifizierenden Maßstäben zu messen ist, anknüpfen können. Gleichwohl hätte man sich weniger Meinung an den Stellen gewünscht, an denen die Empirie noch aufzuarbeiten ist.

Felix Busse: Deutsche Anwälte. Geschichte der deutschen Anwaltschaft 1945-2009. Entwicklungen in West und Ost. Duncker & Humblot, Berlin 2009. 677 Seiten, 98 Euro.

Christian Booß

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