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19. März 1962. Kinder in Algier vor einem Plakat der französischen Kolonialmacht, das den seit 16.06 Uhr geltenden Waffenstillstand verkündet. Foto: AFP

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Kultur: Das vergessene Erbe

Vor 50 Jahren endete der Algerienkrieg, der eine halbe Million Tote hinterließ. Die Folgen des französischen Kolonialismus sind bis heute zu spüren – auch in Syrien.

Gefeiert wird nicht, obwohl ein rundes Jubiläum ansteht. Zu schmerzhaft sind noch immer die Wunden, zu traumatisch die Verluste, zu spürbar die Folgen. Am 18. März 1962 endete mit der Unterzeichnung der Verträge von Évian der Algerienkrieg, das ehrgeizigste Kolonisationsprojekt Frankreichs, das in einen achtjährigen Krieg mit einer halben Million Toten gemündet hatte, an dessen Spätfolgen beide Gesellschaften bis heute leiden. Dass es ein Krieg war, räumte Frankreich offiziell erst1999 ein – bis dahin war nur von „den Ereignissen“ die Rede.

Die Gewalterfahrung und die schmerzhafte Spaltung der algerischen Bevölkerung im Krieg sind zwei Gründe, warum die Menschen in Algerien sich bisher scheuen, gegen ihr autokratisches, korruptes Regime auf die Straße gehen, wie es die Tunesier, Ägypter, Libyer und Syrier seit gut einem Jahr tun. Doch die französische Kolonialmacht hat in der gesamten Region Spuren hinterlassen. Auch in Syrien, dem Mandatsgebiet, das Frankreich nach 1945 nicht ganz aufgeben wollte, weshalb es noch 1946 Damaskus bombardierte. Zu den unseligsten Hinterlassenschaften dieser Zeit gehört, dass die Kolonialmacht ethnische und religiöse Minderheiten gezielt gegen die Mehrheitsgesellschaft ausspielte. Damals wurden Weichen gestellt, die bis heute zu Fehlentwicklungen führen.

Das Prinzip „Teile und herrsche“ wurde zunächst in Marokko und Algerien angewandt, dann von der Mandatsmacht auf Großsyrien übertragen. In Nordafrika hatten sich die Franzosen auf die Berber und die ländliche, tribal organisierte Bevölkerung sowie religiöse Orden gestützt – als Gegengewicht zu den gebildeteren städtischen Schichten und der Mehrheitsgesellschaft der sunnitischen Araber, die nationalistischer eingestellt waren und oft mehr Widerstand leisteten. „Die westliche Bevorzugung von Minderheiten hat die Politik in der arabischen Welt verfälscht“, klagt der US-Historiker Eugene Rogan im Gespräch, der in seiner soeben auf Deutsch erschienenen Geschichte der Araber diese ungute Entwicklung nachzeichnet („Die Araber. Eine Geschichte von Unterdrückung und Umbruch“, aus dem Englischen von Hans Freundl, Norbert Juraschitz und Oliver Grasmück. Propyläen, 736 S., 26,99 €).

Das eklatanteste Beispiel: „Als selbsternannte Schutzmacht für die Christen in Großsyrien hat Frankreich den Libanon geschaffen und die Grenzen so gezogen, dass sie die maximale Zahl von Christen umfassen und diese dort eine knappe Mehrheit stellten“. Der 51-jährige Leiter des Middle East Centers an der Universität Oxford legt dar, wie Frankreich ein konfessionelles System zementierte, in dem laut Verfassung nur ein Christ Staatspräsident werden darf.

Dahinter stand die Erwartung, dass der Einfluss Frankreichs als Schutzmacht der Christen auf diese Weise erhalten bliebe, auch über die Unabhängigkeit hinaus. Die Debatte, ob die Bewohner sich als Bürger um eine Nationalflagge oder als Gläubige um ihre religiösen Führer scharen, sei damals im Libanon zugunsten des Konfessionalismus entschieden worden, sagt Rogan. „Daran krankt der Libanon bis heute.“ Ein arabischer Frühling im Libanon würde bedeuten, dieses lähmende konfessionelle System über den Haufen zu werfen.

Mit dem Aufstand in Syrien wollen die Menschen nicht nur ein autoritäres Unterdrückerregime verjagen. Sie wollen sich auch von den Nachwehen der Kolonialzeit befreien, das heißt vom Minderheitenregime der schiitischen Aleviten, die den Staats- und Militärapparat beherrschen. Die Franzosen, so Rogan, stützten sich gerne auf Minderheiten, „um den aufkommenden Nationalismus der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit zu konterkarieren“. Sie teilten das heutige Syrien zunächst in vier Kleinstaaten auf und gestanden den Minderheiten der Aleviten und Drusen jeweils eigene Territorien zu, um sie als Alliierte zu gewinnen.

Außerdem holten die Franzosen die ungebildeten, auf dem Land lebenden Aleviten und andere Minderheiten ins syrische Militär und ihre „Troupes speciales“. So waren am Ende der französischen Mandatszeit etwa 55 Prozent der höheren Armeeposten mit Angehörigen einer Minderheit besetzt, die nur etwa zwölf Prozent der Bevölkerung ausmacht. „Als in den sechziger Jahren die Militärcoups begannen, bedeutete dies also, dass die Aleviten an die Macht kommen“, konstatiert Rogan. In Homs eröffneten die Franzosen eine Militärakademie zur Offiziersausbildung, sie wurde ein Zentrum der alevitischen Machtübernahme. Die Stadt im Westen Syriens gilt als Zentrum der Rebellion gegen Assad. Doch von der Militärakademie aus wurde in den vergangenen Wochen der Kampf des Regimes gegen die mehrheitlich sunnitischen Rebellen geführt.

Dennoch hat sich im Laufe der Zeit ein syrisches Nationalbewusstsein herausgebildet, das von starkem Panarabismus und einer unnachgiebigen Haltung gegenüber Israel geprägt ist. Rogan nennt es tragisch, dass dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit wohl in dem Augenblick zerstört wird, in dem die Menschen Demokratie und Bürgerrechte einfordern – weil sie damit gleichzeitig auch mit einer religiösen Minderheit und ihrer Herrschaft abrechnen. Zumal diese zunehmend die konfessionelle Karte ausspielt, wie zuvor die französische Mandatsmacht.

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