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Bilder mit Feinsinn. "Porträt eines jungen Mannes", von Lotto gemalt im Jahr 1526.

© Wikipedia

Das vergessene Werk von Lorenzo Lotto: Dieser Maler steht den Riesen der Renaissance in nichts nach

Seine Bilder sind subtil, wagen auch Mal das Experiment. Trotzdem wird der großartige Renaissancemaler Lorenzo Lotto selten beachtet. Henry Kaap untersucht sein Werk.

Die Renaissance war eine Zeit der Umwälzungen. Europas Mächte beginnen mit der Ausbeutung der überseeischen Kolonien und tragen ihre Konflikte in Italien aus. Die Welt erlebt die erste mächtige Globalisierungswelle. Der Buchdruck wird eingeführt, eine technische Revolution wie das Internet, optische Gläser ermöglichen ein neues astronomisches Weltbild und verändern den Blick der Menschen auf sich selbst: vom Spiegel, der sich damals zum Alltagsgegenstand entwickelt, zum Selfie.

Es war eine Zeit neuer gesellschaftlicher Erfahrungen, ähnlich wie jetzt. Die Menschen beginnen an ihrer Selbstoptimierung zu arbeiten, die Verstädterung nimmt zu. Handel und Geldwesen internationalisieren sich. Die Renaissance ist in vielen Bereichen unser Referenzsystem, mit starken Unterschieden und Parallelen.

Der Mann auf dem Bild, um das sich dieses Buch dreht, „Lorenzo Lotto malt Andrea Odoni“ von Henry Kaap, ist Mitte Dreißig, trägt Vollbart und gepflegtes, langes Haar. Ihn kleidet eine elegante Jacke mit Pelzkragen. Offensichtlich hat er eine Schwäche für antike Skulpturen, die er mit Besitzerstolz vorzeigt. Inmitten einer Sammlung von römisch-griechischen Köpfen und Torsi präsentiert sich hier freilich ein Händler aus Venedig, Andrea Odoni.

Würde man ihm die kleine Statue abkaufen, die er seinem Gegenüber mit einem freundlich-nachdenklichen Gesichtsausdruck hinhält? Er wirkt vertrauenswürdig und intelligent, man könnte ins Geschäft kommen – nur dass er vor 500 Jahren gelebt hat.

Das Porträt entstand 1527, ein Werk von Lorenzo Lotto. Heute gehört es zur Royal Collection der britischen Krone. 2018 war er in der Schau mit Lorenzo-Lotto-Porträts im Prado in Madrid zu sehen, danach in der National Gallery London. Odoni zählte nicht zum Adel, der sich von Titian und Tintoretto porträtieren lässt. Odoni ist Vertreter einer aufstrebenden sozialen Klasse. Ein Haus, das seinen Namen trägt, steht heute noch in Venedig, in der Nähe des Bahnhofs Santa Lucia. Touristen können dort Zimmer mieten.

Macht und Kunstsinn. Das „Bildnis des Andrea Odoni“ malte Lorenzo Lotto im Jahr 1527.
Macht und Kunstsinn. Das „Bildnis des Andrea Odoni“ malte Lorenzo Lotto im Jahr 1527.

© The Royal Collection Trust, Hampton Court

Leonardo da Vinci wirkte in Florenz und Mailand, Michelangelo in Florenz und Rom, dort schuf auch Raffael seine berühmten Werke. Sie sind das erdrückende gleichsam göttliche Dreigestirn der Renaissance, die alle anderen Maler überstrahlen. Doch das ist eine sehr eingeschränkte Perspektive. Giorgio Vasari, oft als „Vater der Kunstgeschichte“ bezeichnet, hat im 16. Jahrhundert diese Sicht der Genies und Großmeister geprägt, sie hält sich bis heute. Vasari war ein großer Erfinder von Mythen, für ihn galt „Florence first!“

Lorenzo Lotto (1480–1557) steht den Riesen der Renaissance nicht nach. Es gibt über ihn kaum neuere Publikationen. Lorenzo Lotto arbeitet an verschiedenen Orten des Veneto, in Bergamo und später in den Marken, am Rande der Kunstmetropolen. Er ist viel unterwegs, wird nirgends heimisch. Am Ende seines Lebens zieht er sich in ein Kloster zurück.

Im Vergleich mit Leonardo, Raffael und Michelangelo wirkt er unverbraucht. Hier schauen Individuen schauen nachdenklich und neugierig, mit Furcht und Zweifel, Arroganz, Verwirrung, voller Neugier und Hoffnung. Es sind unsere Verwandten, in der Geografie und in den Konflikten, die diese Bilder ausdrücken.

Die Berliner Gemäldegalerie besitzt einige schöne Lottos; selbstbewusste Bürger, die in schwierigen Zeiten ihre Würde bewahren. Seine Porträts fallen auf durch ihre subtile Psychologie, die sich mit hoher Empathie verbindet. Seltsam nur, dass es über diesen Künstler keine neuere Monografie gibt. Das berühmte Lotto-Buch von Bernard Berenson erschien vor 125 Jahren, das ist also schon eine Weile her.

Lotto zählt zu den fortschrittlichen Katholiken

Henry Kaap hat für „Lorenzo Lotto malt Andrea Odoni“ seine Dissertation an der FU Berlin ausgebaut. Der Untertitel „Kunstschaffen und Kunstsammeln zwischen Bildverehrung, Bildskepsis, Bildwitz“ weist schon auf einen strengen kunsthistorischen Angang hin. Man kann eine Menge lernen in diesem Buch, denn Lorenzo Lotto gehört eben nicht zu den komplett ausgeforschten Künstlern seiner Zeit. Kaap macht deutlich, dass das Odoni-Porträt in einem Moment entstand, da in „ganz Europa erste Kunstsammlungen außerhalb von religiösen Kontexten“ zusammengetragen wurden. Es ist der Beginn, leicht vereinfacht, unserer Museumskultur.

[Henry Kaap: Lorenzo Lotto malt Andrea Odoni. Kunstschaffen und Kunstsammeln zwischen Bildverehrung, Bildskepsis, Bildwitz. Gebrüder Mann, Berlin 2021. 320 S., 69 €.]

Lotto malte zahlreiche, zum Teil großformatige religiöse Werke, zu sehen etwa in Asolo und Venedig. Dem Künstler wurde immer wieder eine tiefe Religiosität zugeschrieben. Kaap zählt Lotto zu den schon fortschrittlicheren Katholiken, die angesichts der im Norden durchschlagenden Reformation neue Bildwelten anstreben.

Der angesprochene „Bildwitz“ bei Lotto wird sinnlich gemacht in „Venus und Amor“, das überraschende und manieristisch wirkende Werk hängt im Metropolitan Museum of Art in New York. Der geflügelte Bengel pinkelt in hohem Strahl auf die lächelnde Nackte; ein Brautbild soll es sein, Allegorie auf den nicht darstellbaren Geschlechtsverkehr.

Lorenzo Lotto war ein experimenteller Künstler, das zeigt dieses Buch. Es dient der Wissenschaft mehr als einem breiteren Interesse. Dafür gefällt es mit einem vorzüglichen Bildteil.

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