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Kultur: Das Wunder einer unerschöpflichen Inspiration

Klassik, Romantik oder Biedermeier - das Genie Schubert triumphiert über Einordnungsversuche VON DIETRICH FISCHER-DIESKAUDer Mann, dessen 200.Geburtstag wir dankbar begehen, empfand das Wirken Ludwig van Beethovens zugleich als Anregung und Bedrückung, als eine durchaus unklassische Haltung, die sich, als klassisch eingeschätzt, die gesamte deutschsprachige Hörerzone erobert hatte.

Klassik, Romantik oder Biedermeier - das Genie Schubert triumphiert über Einordnungsversuche VON DIETRICH FISCHER-DIESKAU

Der Mann, dessen 200.Geburtstag wir dankbar begehen, empfand das Wirken Ludwig van Beethovens zugleich als Anregung und Bedrückung, als eine durchaus unklassische Haltung, die sich, als klassisch eingeschätzt, die gesamte deutschsprachige Hörerzone erobert hatte.Beethovens Ideen standen zur Verehrungswürdigkeit eines Goethe und Schiller in Parallele, seine Leidenschaftlichkeit und Heroik zu der Heinrich von Kleists.Schuberts geistiger Raum offenbart sich uns als jünger und doch zugleich bereits in jene Enge verwiesen, die man als "Biedermeier" klassifizierte.So ging zu Lebzeiten seine Ausstrahlung nicht über die der Dichter Franz Grillparzer oder Adalbert Stifter hinaus.Und das Einsiedlertum, der Eigensinn in den Gestalten der "Ahnfrau" ebenso wie die Besinnlichkeit des "Nachsommer", sie entsprechen dem Hintergrund eines Freundeskreises, zu dessen Mittelpunkt Schubert erklärt wurde. Den Tonfall der Unterhaltungen bestimmten der Dichter Eduard von Bauernfeld, der Beamte Joseph von Spaun und der Maler Leopold Kupelwieser.Mit dem Dandy und Gelegenheits-Schauspieler Franz von Schober kam ein Hauch von Diabolik in den Kreis.Johann Mayrhofer, als im Zensorenamt bedrückter Freiheits-Lyriker zum Selbstmord getrieben, verkörperte eine für alle typische Problematik.Frauengestalten figurierten mehr am Rande, so die vier Schwestern Fröhlich, herzlich und resolut zugleich.Die älteste unter ihnen hatte Grillparzer zum "ewigen Bräutigam", der schwer an sich trug und seine Verbitterung über Zeit und Menschen nicht verschwieg.Die Aussage seiner Dichtung steht uns für das Genietum jenes Wien, dessen Geister sich zumeist in der Stickluft kleinen Beamtenwesens eingeengt fühlten.Der bildende Mitschöpfer dessen, was an dem aufkommenden Begriff Romantik zeitgebunden blieb, hieß Moritz von Schwind. Sie alle überragte - für Österreich so typisch - der Musiker Schubert, kleinen, etwas fettleibigen Wuchses, schüchtern und bescheiden, aber aus unerschöpflichem Eingebungsstrom schaffend und sich das letzte an Arbeitskraft abverlangend, wie aus der Ahnung einer zu kurz bemessenen Schaffenszeit. Von Geblüt war er kein Wiener, beide Eltern kamen aus Mährisch-Neudorf, das zum schlesischen Bereich gehört.Und von daher mag auch seine besondere Geistigkeit stammen, einem Andreas Gryphius oder Angelus Silesius verwandt.Sie befähigte ihn, Goethes Lyrik etwa auch da musikalisch zu gestalten, wo sie ganz im Gedanklichen verhaftet ist.Aber nicht in Abstraktion verharrte er dabei, vielmehr durchpulste seine Tonsprache die Gedichte derart, daß aus ihnen Wunder an Bildhaftigkeit wurden und eine neue Wortmusik entstand. Schuberts Erscheinung als ein Faktum der Musikgeschichte erfuhr unterschiedlichste Deutungen und mußte sich auch Mißverständnisse gefallen lassen.Vornehmlich waren es Belletristen und Singspielautoren am Beginn unseres Jahrhunderts, die sich bemüßigt fühlten, ihn zu verniedlichen und ihm einen Anstrich von Sentimentalität zu geben.Merkwürdig lange glaubte man solchen Irreführern und stellte sich Schubert als ein naives Männchen vor, dem unglückliches Verliebtsein und Weintrinken den eigentlichen Lebenssinn bedeuteten.Man gab sich damit zufrieden, in ihm einen Bohemien zu sehen, dessen eingängige Melodien in nur sparsamer Auswahl des Erinnerns wert sein mochten.Erst vor noch nicht allzu langer Zeit begann, von einigen wenigen großen Interpreten unterwiesen, die Hörerschaft zu begreifen, was dieser Schubert in den anderthalb Jahrzehnten seines Schaffens wirklich geleistet hatte.Sie lernte die Meisterschaft seiner Symphonien schätzen, die ihre Eigenart neben denen Beethovens gleichrangig behaupten.Sie entdeckte die Wunder seiner Kammermusik, die in den Klaviertrios, den Streichquartetten, dem Oktett oder dem Streichquintett kulminiert.Sie begann, durch Pianisten wie Arthur Schnabel oder Eduard Erdmann, den weitgespannten Bogen seiner Klavierwerke, der "Wanderer-Phantasie", der Sonaten, der Impromptus und Moments musicaux kennenzulernen.Die Kirchenmusiker erkannten Schuberts Bedeutung auf dem Gebiet der Messen-Konzeption, die er besonders mit zwei Werken aus seiner reifen Zeit beeinflußte.Schließlich aber eröffnete sich die weite Landschaft seines bevorzugten Arbeitsthemas, die Welt des Klavierliedes, in der er absolutes Neuland erschloß. In der Vielfalt der Formen, der Treffsicherheit des Ausdrucks, der kühnen Farbigkeit seiner Harmonien, im Figurenreichtum des Klaviersatzes hat niemand seine, durch Einfachheit ausgezeichnete Suggestivkraft erreicht.Ziel und Höhepunkt seines Liedschaffens bildet die Novelle im Lied, von denen er zwei vollenden konnte, andere als Fragment zurückließ.Hier drang er in Bereiche vor, an die in der Musikentwicklung bis dahin niemand denken konnte.Er brachte seelische Vorgänge zum Erklingen, die ihn als Vorläufer unseres Zeitalters erscheinen lassen, ohne daß doch jenes von ihm erreichte Gleichgewicht zwischen Wort und Musik je wieder erreicht worden wäre.So stehen auf dem Weg von Christoph Willibald Gluck zu Richard Wagner solche Goethe-Vertonungen wie "Prometheus" oder "An Schwager Kronos" einzig da. Von einer "Entwicklung" im landläufigen Sinne kann bei diesem Genie ohnedies kaum gesprochen werden.Zwischen dem "Erlkönig" von 1814, der "Forelle" von 1818, dem "Musensohn" von 1822, der "Jungen Nonne" von 1825 und dem "Hirt auf dem Felsen" von 1828 gibt es keinen Rangunterschied, nur den der Form.Nicht zu allen Zeiten seiner knappen Schaffensspanne war natürlich die gleiche Unmittelbarkeit der Tonsprache gegeben.Und Schubert ist mit den Jahren zu einem musikalischen Dichter gewachsen, denn seine Arbeit am Lied nahm mehr und mehr den Charakter eines höchst selbständigen Übertragens in die Sprache seiner Töne an, wobei er nicht selten die Gedanken des Dichters schärfer formulierte, sie weiterdachte.Das Ergebnis des Fortschreitens, über frühe Kantatenformen, über Rezitativ-Gesänge, über strenge und variierte Strophenlieder hinaus, war ein neuartiges Gebilde, das man als "symphonische Stimmungseinheit" bezeichnen könnte.Diese seine Eigenschöpfung spiegelt eine bis dahin nicht gekannte Sensibilität für den geistigen Gehalt der Dichtung wider und eine Befreiung des Klavierparts von seiner bis dahin bloß begleitenden Funktion.Vielleicht darf man sagen: die gültigen Ergebnisse der Frühzeit tragen mehr den Charakter der Eingebung, während die Werke der Reife auf ein noch bewußteres Gestalten schließen lassen.Dies sei mit großer Vorsicht ausgesprochen, vor allem angesichts der weniger gelungenen Produkte auch späterer Jahre.Brahms hatte aber wohl recht, wenn er bemerkte, es gäbe unter den Hunderten von Liedern keines, aus dem sich nicht etwas lernen ließe. Natürlich erfuhren die Schwerpunkte der Wertschätzung immer wieder Verlagerung und Erweiterung, vor allem auf Grund der Emphase bestimmter Interpretenleistungen.Gern beanstandete man Schuberts vermeintliche Wahllosigkeit, die ihn so manchen literarisch zweit- bis drittklassigen Text vertonen ließ.Dabei blieb außer acht, wie häufig er Gedichte unberücksichtigt ließ, auch daß er den weiten Kreis der Lyrik seiner Zeit und mancher früheren Meister in den Liedern durchschritt.Was in Schubert Musik auslöste, unterlag besonderen Gesetzen, die sich naturgemäß nicht einzig nach literarischen Gesichtspunkten richteten.Daß er Schönstes von allen großen Lyrikern seiner Zeit erstmals erkor, spricht zweifellos für seinen literarischen Geschmack. Neben derartigen Gipfelwanderungen verschwendete er sich an eine Unmenge von Tages- und Gebrauchsmusik, wie die zahllosen Tänze und Märsche in unterschiedlicher Instrumentierung bezeugen, die zwar nicht im Zentrum seines Schaffens stehen, aber doch das Signum seiner unverwechselbaren Musizierfreude tragen. Wohl alle Einordnungsversuche in bezug auf Schubert als "Klassiker" oder "Romantiker" werden ergebnislos und ohne Bedeutung bleiben.Wie seine Idole Gluck, Haydn, Mozart oder Beethoven und seine nachmaligen Verehrer Schumann, Brahms, Bruckner, Wolf oder Mahler bewegte er sich zwischen den Polen des Gestalteten und Erfühlten, er jedoch wohl am meisten mit der Sicherheit eines Somnambulen, eine Behauptung, die beileibe nicht ablenken möge von seinem Fleiß, von der Besessenheit, die ihn zu immer neuen Experimenten und Erkenntnissen drängte.Diesen Eigenschaften ist es zuzuschreiben, daß er in wenigen Jahren ein ausgereiftes Lebenswerk hinstellte, daß er sich nur in seltenen Fällen Vornotizen machte, was zur Legende vom bloß "intuitiven" Musiker sein Teil beitrug.Aber Beethovens verzweifeltes Feilen war ihm fremd, seine klar im Kopf vorkonzipierte Arbeit erlaubte es Schubert, eine Komposition ohne Unterbrechung niederzuschreiben; nur selten wurden Korrekturen notwendig.Entsprach das Ergebnis nach letzter Prüfung nicht seinen Vorstellungen, wiederholte er die Niederschrift, mitunter einige Zeit später, oder brach die Komposition einfach ab. Deutlich unterscheidet sich Schuberts Wesensart von Beethovens gedanklicher Bewußtheit, er scheint in lyrischer Komprimation wie in epischer Breite von schwärmerischerer Natur gewesen zu sein.Aber wie könnte man darüber die Energie seines Rhythmus, die Gespanntheit seiner Dramatik in den Durchführungen seiner Kammermusik oder den Symphonien übersehen! Freilich bleibt zu bedauern und in der Frage nach dem Grund des Scheiterns unbeantwortbar, daß die Sechsachtel-Seligkeit der alten Schule große Teile von Schuberts Opernschaffen einengte, dem, wohl vornehmlich des Mangels an geeigneten Textvorlagen wegen, eine Durchsetzung versagt blieb.Dennoch bleibt in den Hauptwerken "Alfonso und Estrella", "Fierabras", "Rosamunde" vieles zu entdecken, was allem bisherigen Scheitern von Teilausführungen und Textbearbeitungen Trotz bietet. Hätte man es vermieden, Schuberts Instrumentalwerk ausschließlich mit der Sonde von Beethovens Ästhetik anzugehen, wäre es nicht so lange ungerecht hinter das vokale Oeuvre gerückt.Zu solcher Fehleinschätzung trug freilich ihr Schöpfer selbst schon bei, indem er sich von der Gestalt des älteren Meisters nicht selten den Blick für die eigene Besonderheit verstellen ließ.Mit den Objekten seiner größten Verehrung hatte Schubert übrigens wenig Glück: die Widmung eines vierhändigen Klavierwerks beachtete Beethoven ebensowenig wie der alte Goethe die Zusendung zweier Liederkonvolute auf seine Texte.Als Beethoven ein Jahr vor Schubert starb, ging der jüngere mit den "Kapellmeistern", die das Sargtuch hielten. Worte können über Schuberts Musik wenig aussagen.Und wer ihn noch nicht liebt, wird durch den magischen Strom seiner Töne angezogen werden, wer ihn liebt, trägt ihn in sich, wer ihn nicht mehr liebt, wird wieder zu ihm finden.Denn die Kraft seiner unerschöpflichen, stets vom Kern seines Wesens kommenden Inspiration, völlig verschieden von Bachs handwerklicher Sicherheit, Mozarts souveräner Formungskraft oder dem feilenden Fanatismus Beethovens, ist unter den Wundern Schubertscher Kunst das Erstaunlichste, das Geheimnis ihrer unmittelbaren, über die Zeiten hinweg beglückenden Wirkung.

DIETRICH FISCHER-DIESKAU

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