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Kultur: Das Wunder von Hannover

Beim höchstdotierten Violinwettbewerb der Welt gewinnt unter anderem ein Berliner.

Plötzlich wummert es von fern. Detonationen inmitten finnischer Weiten. Der Pauker im Violinkonzert von Jean Sibelius kann nichts dafür, und Bürgerkriege führen die Hannoveraner nie. Ein Feuerwerk auf dem nahen Oktoberfest kracht bis in den NDR-Sendesaal, wo ein junger Dichter auf der Geige den Tönen nachsinnt. Solche Schocks können selbst einen Finalisten erschüttern, der das Härteste schon hinter sich hat. Drei Runden und zwölf Tage mit Bach und Ysaye und Beethoven, einem einstündigen Recital inklusive Uraufführung und einem Violinkonzert des von allen am meisten gefürchteten Mozart.

Tobias Feldmann trotzt mit Innigkeit den Böllern. Man kann sie ja auch symbolisch hören für eine verrohende Welt, in der ein Violinwettbewerb wie eine Insel der Seligen anmuten mag. Für Hannover stimmt das sogar ein bisschen. Der Internationale Violinwettbewerb Joseph Joachim ist mit 140 000 Euro Preisgeldern der höchstdotierte der Welt. 178 junge Solisten haben sich beworben, 38 von ihnen wurden eingeladen, sechs spielten im Finale, Zehntausende von Aficionados haben den Livestream im Netz verfolgt. Trotzdem verliert der Begriff „Wettbewerb“ hier etwas von der üblichen Härte.

Anders als in einer Metropole wie Brüssel mit ihrem Concours Reine Elisabeth ist man hier geborgen. Mitten in Europa, aber auch mitten in der noch konsistenten großen Familie der Bildungsbürger, die auch als Gastgeber der Solisten keinen allein lassen. Jeder Auftritt ist ein gut besuchtes Konzert, keiner muss nur für die Jury spielen, viele Hörer haben ihre Lieblinge, und so verfolgt man gespannt nicht nur Hürdenläufe und Höhenflüge, sondern auch Leben im Zoom. Die Musik lässt tief blicken. Bei manchen erkennt man im Hintergrund noch die Lehrer, bei anderen schon die weite Welt. Oder gar den Komponisten.

Da ist zum Beispiel der kleine Koreaner. Beim einstündigen Recital im Semifinale ist er kaum aufgefallen. Dann kommt Mozart. In Mo Yang, 16 Jahre jung, hat das B-Dur-Konzert des gleichaltrigen Komponisten gewählt. Nicht, dass Yang sich sonderlich mit der Aufführungspraxis beschäftigt hätte – die wenigsten hier dürften jemals einen Blick in die Violinschule von Mozarts Vater geworfen haben –, aber er vertraut den Linien, erzwingt nichts, merkt, wo Mozart mit ihm spielen möchte. Sie verstehen sich, wir verstehen sie, und das ohne Dirigenten spielende Münchner Kammerorchester geht wunderbar mit.

Dagegen spielt Alexandra Conunova- Dumortier das A-Dur-Konzert KV 219, als müsse sie einen Zug kriegen – nur steigt Mozart nicht mit ein. Mit ihrer exzellenten Technik ist der 24-jährigen Moldawierin schon viel Stimmigeres gelungen. Etwa die erste Interpretation, in der das Auftragswerk von Peter Francesco Marino Ausdruck und Leben entwickelt. „Unentrinnbar“ heißt sein schikanöses Solo. Dass sich in den fiesesten Fingerspreizungen auch Kontrapunktik verbirgt, erkennt aber erst Stephen Waarts, ein 16-jähriger Amerikaner mit endlos langen Armen und einer Frisur aus dem 19. Jahrhundert.

Er ist der genialische Nerd, den es auf jedem Wettbewerb geben muss. Manche finden es arrogant, dass er alles auswendig spielt, aber was kann er für sein fotografisches Gedächtnis? Dass ihm sein angeschlagener Mozart den Weg ins Finale verbaut, wird ihn nicht stoppen. Eher sorgt man sich um die Polin Joanna Kreft, die so viel zu erzählen hat, aber vor Sensibilität oft die Sicherheit verliert. Da sind die Geigerinnen Bomsori Kim und Dami Kim, zwei der elf Koreaner im Wettbewerb, viel unbeirrbarer – und bieten doch weit mehr als polierte Oberfläche. Bomsori entzückt durch Intelligenz, in Dami brodelt Magma.

Niemand aber öffnet so viele Horizonte wie der 21jährige Tobias Feldmann. Aus Debussys Sonate macht er ein absolut modernes Werk, voller Perspektiven und durchdachter Brüche, in Bartóks Solosonate fusioniert er Geist und Drang, von Marinos „Unentrinnbar“ verlangt er fast mehr, als drin ist, und Mozarts A-Dur-Konzert beginnt zu sprechen. Denkender, fühlender Ton. Im Adagio schmerzliche Zärtlichkeit, die noch über ihren jähen Abbruch hinausstrahlt. Im finalen Rondo ein Schritt ins Moll, der nicht zur erwarteten alla turca-Folklore führt, sondern durch Schubert’sche Schatten in einen aufgekratzten Totentanz.

Selbst die Technik wirkt bei Feldmann bewusster, weniger selbstlaufend – aber darum auch leichter irritierbar. So unterlaufen ihm nach den Böllern im Finale mit der Radiophilharmonie Hannover Blessuren, die in der Arithmetik der Jury stärker ausschlagen als die Poesie. Alexandra Conunova-Dumortier hat aus demselben Sibelius eine einfarbig röhrende Löwennummer gemacht, freilich mit größter Souveränität. Sie erhält den ersten Preis gemeinsam mit Dami Kim, deren Beethovenkonzert von enormer persönlicher Intensität ist. Die Stiftung Niedersachsen hat den Preis einfach verdoppelt: 50 000 Euro für jede Geigerin.

Der zweite Platz bleibt frei, und Dritter wird ein Student aus Berlin: Tobias Feldmann. Seine Fans sind nur in Maßen enttäuscht, denn in Hannover gibt es eine Spezialität, von der sich andere Wettbewerbe etwas abgucken können: Neben elf Hauptjuroren votiert ab dem Semifinale auch das Quintett einer Kritikerjury, der auch der Autor angehörte. Wir fünf entschieden uns für Feldmann, der auch den Preis des Publikums erhielt. So schließt sich noch ein großer (Geigen-)Bogen: Feldmanns Berliner Lehrerin Antje Weithaas war die Siegerin, als anno 1991 erstmals der Violinwettbewerb in Hannover über die Bühne ging. Volker Hagedorn

Volker Hagedorn

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