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Kultur: Das Wunder von San Casciano

Die erste Fußball-WM der Schriftsteller

Als ein paar deutsche Autoren am letzten Donnerstag aus unruhigen Träumen erwachten, fanden sie sich, wie das bei Kafka heißen würde, in ihren Betten plötzlich zu Nationalspielern verwandelt, die eine Fußball-Weltmeisterschaft in Italien zu bestreiten haben. Wie Nationalspieler fuhren wir also frühmorgens zum Airport, ab nach Rom! Dort erwartete uns ein Alfa-Romeo-Fuhrpark, um uns zum Spielort San Casciano dei Bagni zu bringen.

Ende Juli wurde Thomas Brussig („Sonnenallee“) von der Nazionale Scrittori, der italienischen Schriftsteller-Nationalmannschaft um Alessandro Baricco („Seide“), gefragt, ob er nicht Lust hätte, ein deutsches Team für die erstmals stattfindende World Writers’ League zusammenzustellen, für die außerdem noch eine skandinavische Auswahl und Ungarn zugesagt hatten. Eine rhetorischere Frage lässt sich kaum denken: Brussig sagte sofort zu und baute in einer Art Personalunion aus Kapitän, Teammanager und Spiritus Rector aus dem Nichts eine Auswahl auf, zu der unter anderem Moritz Rinke, Michael Lentz, Albert Ostermaier, Tobias Hülswitt und Jochen Schmidt gehören. Fortan wurde nicht nur jeden Sonnabend trainiert, sondern sogar ein Trainingslager in Mecklenburg unter Leitung von Trainerlegende Hans Meyer abgehalten und im letzten Testspiel die für deutsche Nationalteams obligatorische Klatsche kassiert.

Aber das alles ist bereits graue Vergangenheit, als wir in San Casciano zum Klassiker gegen Italien einlaufen. Die Nationalhymnen werden gespielt, wir werden von Kamerateams in Nahaufnahme abgefilmt (dummerweise den Kaugummi vergessen!) und dann pfeift das Fifa-Schiedsrichter-Gespann (!) auch schon an. Es entsteht sofort eine leidenschaftlich bis hitzig geführte Partie. Von Beginn an viele Fouls und kleine Nickeligkeiten, die sich bei uns speziell gegen Spielmacher Klaus Döring richten. In der 20. Minute gelingt uns dennoch mit einem schönen Spielzug die Führung: Moritz Rinke köpft auf sehenswerte Weise ein.

Die immerhin schon seit vier Jahren zusammenspielenden Italiener wirken geschockt, aber das Spiel beruhigt sich nur kurz. In der zweiten Hälfte geraten wir unter Druck, Trainer Paolo Sollier peitscht seine Mannschaft nach vorn. Hans Meyer hingegen gibt ruhige, aber energische Anweisungen hinter dem Tor von Albert Ostermaier, der als Verfasser von Feuilleton-Oden an Olli Kahn den Torwartkrieg, jenes Luxusproblem des deutschen Fußballs, gegen den aus Barcelona eingeflogenen Ronald Reng („Der Traumhüter“) für sich entscheiden konnte. Den Azzurri gelingt jedoch trotz Platzüberlegenheit, zahlreicher hochkarätiger Chancen und einem Lattenknaller kein Treffer mehr. Cazzo, fluchen sie, Felicita! singen wir wenig später unter der Dusche.1:0! Finale!

Anderntags kommt es zur befürchteten Ernüchterung. Gegen die starken Skandinavier, die sich ein Team um den ehemaligen schwedischen Nationalspieler und HSV-Profi Niclas Kindvall (heute angeblich Kinderbuchautor...) zusammengestellt haben, fangen wir uns gleich in der ersten Hälfte zwei unnötige Treffer ein und müssen dann hinten aufmachen, spielen nur noch auf Abseitsfalle. Drei Tore kassieren wir so, darunter eine klare, aber nicht gepfiffene Abseitsposition. Uns gelingen immerhin noch ein paar schöne Abschlüsse durch die offensiv starken Klaus Döring und Wolfgang Herrndorf sowie ein – diesmal geahndetes – Abseitstor durch Moritz Rinke. Und so war es, wie es bei Kafka heißen würde, eine Bestätigung unserer neuen Träume und guten Absichten, mit einem Torverhältnis von 1:5 als typisch deutscher Vize-Weltmeister aus dem Turnier zu gehen! Die Nationalspieler-Metamorphose aber wirkt nach: Mit dem Schreiben hapert es seitdem, die vertraute Schreibtisch-Umgebung erscheint noch trister als sonst.

Andreas Merkel, 35, lebt in Berlin und hat die Bücher „Große Ferien“ und „Das perfekte Ende“ geschrieben.

Andreas Merkel

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