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Kultur: Das Zittern des Kalligraphen

Waffen, Minen, Mauern, die einmal Häuser waren und dazwischen Frauen, die vor den Augen ein Gitter tragen. Mag sein, dass der Blick so realistischer ist.

Waffen, Minen, Mauern, die einmal Häuser waren und dazwischen Frauen, die vor den Augen ein Gitter tragen. Mag sein, dass der Blick so realistischer ist. Leben ist Gefangensein, nur die Herren wechseln. Gibt es noch mehr über Afghanistan zu zeigen?, fragte sich das Berliner Babylon-Kino und suchte andere Bilder. Es fand Volker Koepps "11 Uhr Afghanistan 1362 - Erinnerungen an eine Reise". Der DEFA-Regisseur fuhr 1983 nach Afghanistan. Er kam aus der DDR und fuhr wohl in ein künftiges "Bruderland".

1983. Das Baktrien des Altertums ist eines der bettelärmsten Länder der Welt, 90 Prozent Analphabeten, hohe Kindersterblichkeit, Lebenserwartung 40 Jahre. Die arbeitsfähigen Männer verbringen ihr Leben in einem Kampf, der nie aufhört. Nur die Fronten wechseln öfter. Kleine Jungen tragen große Maschinengewehre - alles scheint genau wie heute. Aber dann plötzlich stehen lachende Mädchen vor der Kamera und sagen, dass sie in die 10. Klasse der Mädchen-Oberschule von Sagona gehen. Sie würden gern in der DDR studieren. Sie tragen keine Schuluniform, nicht mal Schleier, nur ein loses weißes Tüchlein weht auf dem Kopf wie eine ferne Erinnerung.

Es ist ein seltsames Land zwischen uralter Tradition und Moderne, zwischen sowjetischer Besatzung und Hoffnung auf ein besseres Leben, das Koepp da filmt. Ein Mullah legt den Grundstein einer Schule und sagt: "Sie haben uns die Brücke gegeben und Elektrizität; sie bauen uns Schulen: Es lebe unser Staat Afghanistan!" - Dass nicht alle so denken wie der Mullah, verschweigt Koepps Film nicht. Geschützlärm liegt über den Alphabetisierungskursen. Es gab noch nie einen Staat Afghanistan, und das, denken viele, soll auch so bleiben. Noch jede Zentralmacht ist an diesem Land gescheitert, denn sie stört. Eine Bodenreform etwa ist ein großes Ärgernis für jeden Großgrundbesitzer, überlegten die Stammesführer, und die USA fanden diese Einstellung sehr vernünftig. 300 000 Bauern bekamen Land, sagt Koepp, viele hatten Angst, es zu nehmen, zu stark war die Macht der Tradition, die : ein kleiner Mann besitzt kein Land.

Dass Moderne Gewalt ist, Fremdheit gegenüber dem Eigenen, Abbruch der Tradition, selten sah man das so deutlich wie hier. Ein Plattenwerk, von den Russen errichtet, und daneben, in Sichtweite, eine alte afghanische Ziegelei. Es gibt nichts Verbindendes zwischen beiden und die Landschaft versucht gar nicht erst, das zu verbergen. Da ist nur Ebene und Sand. Menschenwürdige Häuser wollten die Russen den Afghanen bringen. Es gibt Betriebsessen, eine Berufsschule, Betriebswohnungen, aber wenn ein Arbeiter nur zehn Minuten nach draußen will, braucht er einen Passierschein.

Der Kampf zwischen Tradition und Moderne. Alle Seiten haben ihn verloren, vor allem die Afghanen gegen sich selbst. Es ist, sagt der iranische Regisseur Mohsen Makhmalbaf, als ob dieses Land gegen die moderne Zivilisation immun sei. Makhmalbafs Film heißt "Kandahar". Er lief dieses Jahr im Wettbewerb von Cannes. Das Reisetagebuch der Afghanin Nafas, eine von Millionen afghanischer Flüchtlinge. Nafas kam bis Kanada, dort ereilt sie ein Hilferuf ihrer Schwester. Nafas kehrt zurück nach Kandahar. Mohsen Makhmalbaf hat mal so eine Nafas getroffen. Sie bat ihn, sie zu begleiten. Makhmalbaf lehnte ab. Mit diesem Film fährt er ihr hinterher.

Die Stadt sehen wir nie. Eigentlich sehen wir nur den afghanischen Sand und die Burkas der Frauen. Nirgends einen Plattenbau. Auch Nafas reist wieder unter dem Gitterschleier. Aber so wie bei Makhmalbaf haben wir noch nie eine Burka gesehen. Zum ersten Mal stehen da nicht irrtümlich ans Tageslicht verbannte Gespenster: Diese Schleierkleider sind schön. Auch Makhmalbafs Film ist vor allem eins: schön. Ein Wüstenmärchen. Eine Komposition aus Sand und Farben. Eine Komposition aus Beinprothesen und Tretminen, die wie Puppen aussehen. Man könnte "Kandahar" diese Schönheit und seine unbeirrbare Ruhe vorwerfen. Doch nichts wirkt fremd, nichts aufgesetzt; nicht mal die halbdokumentarischen Züge stören. Nicht mal Nafas, die inmitten von Burkas und Sand immer mal wieder in ein Diktiergerät spricht. Welches Wüstenmärchen, und sei es noch so dunkel in aller Überfülle des Lichts, würde nicht augenblicklich zerrissen von einem Diktiergerät? Makhmalbafs Film hält das aus. Denn "Kandahar" hat, was westliche Filme so nicht haben. Er hat eine Atmung. Nein, dieser Film ist Atmung. Und er ist die Erstickung unter dem Schleier zugleich. Er braucht nur wenig zeigen, um alles zu sagen.

Vor zwei Jahren hat die Wahl-Berlinerin Nora Hoppe "The Crossing" gedreht. Auch das eine Flüchtlingsgeschichte voller dunkler Poesie. Schon lange, ungefähr seit die Russen mit ihren Betonwerken nach Afghanistan kamen, lebt der Kalligraf Babak in Brüssel - und wurde Zugreiniger. Jetzt ist er alt. Die Hände des Kalligrafen zittern, sie fassen die Teekanne nicht mehr. Immer, wenn Babak zu sehr husten muss, zündet er sich eine neue Zigarette an. In Brüssel heißt Babak "Monsieur Jalali". Monieur Jalali kauft jeden Tag Hirse für seine Tauben. Aber da seine Hände so sehr zittern, verschüttet er die Körner. Oh, Monsieur Jalali! Aber gleich hat er es geschafft. Gleich hat Monsieur Jalali vergessen, wer er war. Anders überlebt man nicht im Exil. Nora Hoppe zeigt Afghanistan in der Trauer, der Einsamkeit, der Bitternis der Emigration, trotzdem schön, von unendlicher Sorgfalt wie eine Kalligraphie.

Was fehlt? Afghanistan in der Propaganda, Afghanistan im Kalten Krieg. "Rambo III" zum Beispiel: Vietnam-Veteran Sylvester Stallone wird 1987 vom CIA nach Afghanistan entsandt, um einen alten Kameraden aus sowjetischer Gefangenschaft zu befreien. - Der Gegenschlag der Russen (schon fünf Jahre früher): Sowjetischer Medizinprofessor kommt 1982 nach Kabul, um Vorlesungen zu halten und findet sich tief verstrickt in die "Konterrevolution".

Konterrevolution? Es war der Widerstand der Urmächte der Tradition. Pakistan und die USA beginnen ihre eigenen Alphabetisierungskurse, eine besonders eigenwillige Form: Bauernsöhne, Analphabeten zumeist, verwandeln sich in Theologiestudenten. Die Taliban werden groß.

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