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Heute Frontfrau, früher Mitläuferin. Wie Angela Merkel, hier 2011 bei der Eröffnung einer Ausstellung zur deutsch-deutschen Teilung, mit der eigenen DDR-Vergangenheit umgeht, passt nicht jedem.

© dpa

DDR-Debatte: Angela Merkels beredtes Schweigen

Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Vergangenheit im DDR-System zuletzt thematisiert hat, sorgte für Erleichterung im Land. Doch wie sie und andere es tun, verhindert ein Aufschrecken und eine ehrliche Selbstbefragung der ostdeutschen Öffentlichkeit.

Mutti, erzähl mal von früher! Allzu oft verhallte diese Aufforderung in einem Schweigen oder in umarmenden Anekdoten aus einer Zeit, in der sich Paul und Paula küssten und auch sonst nicht alles schlecht war. Das Reden über die äußerlich vergangene DDR hat an ostdeutschen Kaffeekränzchentischen und in den mit Westgeld neu ausstaffierten Nischen selten stattgefunden. Tante, warst du bei der Stasi? Wer wollte das fragen auf einem Familienfest?

Und plötzlich, 24 Jahre später, erzählt Mutti Merkel von früher. Ja, ich war Mitläuferin, sagt sie. Und sie meint damit wohl: wie fast alle von uns, oder? Ja, Anpassung konnte sich lohnen, zumindest beruflich; und es gab sie in tausenden Facetten. Nein, nicht jeder Karrierist oder Hochbegabte musste zur Stasi. Aber ja, man sollte im Zweifel eben andere Funktionen ausüben – Sekretärin für Agitation und Propaganda zum Beispiel. Erleichtert nickt das ganze Land: Schön, dass Mutti endlich drüber redet. Dabei merkt keiner: Sie schweigt weiter, nur beredter.

Die Bundeskanzlerin des wiedervereinigten Landes, in dem sie zunächst auch nur politische Mitläuferin war, demonstriert noch einmal, dass ihr das ganze Thema eigentlich nicht wichtig ist. Agitation und Propaganda – ich? Kann schon sein, so genau weiß ich das nicht mehr. Klar, ich habe immer behauptet, dass ich irgendwas mit Kultur gemacht habe, das stimmte vielleicht nicht so ganz. Egal, waren wir nicht alle Pioniere?

Ja, Mutti; ist schon gut, Mutti.

Die ostdeutsche Öffentlichkeit, die auffallend oft noch als Abwehrforum gegen vermeintliche Anwürfe fungiert (NSU? Was können wir Ossis dafür? Sind die Täter nicht irgendwie auch Wendeopfer?), diese sich selbst gern bestätigende Öffentlichkeit applaudiert. Vom Fichtelberg bis Kap Arkona erschallt der Ruf: Ich war auch Agitator! Und jetzt ist aber mal gut! Von wegen. Wo die Debatte beginnen könnte, bricht Merkel die Selbstbefragung ab und entschwebt zurück in ihr Reich des Ungefähren: „Dann kann man damit auch leben.“ Dann. Man.

Soll man nichts mehr hinterfragen?

Heute Frontfrau, früher Mitläuferin. Wie Angela Merkel, hier 2011 bei der Eröffnung einer Ausstellung zur deutsch-deutschen Teilung, mit der eigenen DDR-Vergangenheit umgeht, passt nicht jedem.
Heute Frontfrau, früher Mitläuferin. Wie Angela Merkel, hier 2011 bei der Eröffnung einer Ausstellung zur deutsch-deutschen Teilung, mit der eigenen DDR-Vergangenheit umgeht, passt nicht jedem.

© dpa

Agitator war ich, 1975 im Erzgebirge geboren und im Norden des Berliner Ostens aufgewachsen, übrigens auch. Aber soll man deshalb nicht mehr kritisch hinterfragen, warum man einst als junger Jugendlicher mitgemacht hat? Und dabei zumindest ahnte, bei was eigentlich. Unter welchen Umständen wurde man schon als Kind eingruppiert, wurden Kumpels aus der Klasse ausgruppiert (Junge Gemeinde statt Pioniere? Dann kannst du eben nicht mit ins Ferienlager fahren!) oder anders einsortiert (Das Mädchen hat Westverwandtschaft, lass lieber die Finger davon!). Welche Kompensationen hat man sich für Kompromisse ausgerechnet? Kompromisse, von denen vielleicht sogar die eigenen Eltern abrieten? Man könnte ja auch fragen: Warum wurden schon Kindern mit lustigen sozialistischen Liedern politische Funktionen aufgedrängt? Wie sehr marschierte auch ich mit, wann und warum wagte ich einen Ausfallschritt? Gab es Momente der Wahrheit? Eines Tages stand in unserer Pankower Klasse eine Schülerin auf und beschimpfte einen Jungen als „kapitalistischen Verräter“, weil seine Familie in den Westen ausreiste. An seinem letzten Tag hatte er Kuchen mitgebracht. Sie aß den Kuchen nicht. Wir waren zwölf.

Auch Merkel war Mitläuferin: eine Erkenntnis, die beruhigen soll, die aber ein vielleicht notwendiges Aufschrecken verhindert. Warum waren so viele Menschen so lange Mitläufer in der DDR? Wo sind eigentlich die Millionen Parteibücher geblieben? Wie hat mich meine Herkunft geprägt, meine Familie; auch meinen besten Freund, den kapitalistischen Verräter, von dem ich dachte, ich würde ihn erst als Rentner wiedersehen? Darüber könnte man reden, öffentlich nachdenken, auch mal schweigend zuhören. Und dazu könnte gerade die erste ostdeutsche Bundeskanzlerin anregen. Stattdessen erzählt sie – wie so viele an den ostdeutschen Familientischen – ein paar umarmende Anekdoten aus einem Früher, in dem Paul und Paula sich küssten. Wie es genau war, ist Mutti Merkel nicht wichtig. Dabei ist es das, worauf es ankommt.

In unserer Serie zur DDR-Vergangenheit schrieben bisher David Ensikat (16.5.), Antje Sirleschtov (18.5.) und Malte Lehming (22.5.).

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