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Schön jung? Jodie Foster als Prostituierte in Martin Scorseses Kultfilm „Taxi Driver“, 1976. Sie war 13 und spielte eine Zwölfjährige.

© picture alliance / AP Photo

Debatte über Pädophilie: Schutzbestohlene

Von Popkultur bis Porno: Unter dem Vorwand der sexuellen Befreiung des Kindes wurde der pädophile Voyeurismus in den siebziger Jahren gesellschaftsfähig. Dabei offenbarte er vor allem die Ichbezogenheit der Erwachsenen. Ein Rückblick auf die Medien, Filme und Musikkultur jener Zeit.

Sex. Mit Kindern. Je nach Temperament möchte man sich verwundert die Augen reiben, ratlos den Kopf schütteln oder wütend die Fäuste ballen über das, was zu diesem finsteren Thema in den vergangenen Wochen und Monaten alles zutage gefördert worden ist. Es rührt an eines der wenigen wirklich gültigen Tabus unserer Gesellschaft. Ernsthafte Versuche zur Legalisierung pädokrimineller Umtriebe sprengen daher nicht nur unser Moralverständnis, sie übersteigen auch schlicht das Vorstellungsvermögen. Ja, waren denn früher alle verrückt?

Wie jede absolute Setzung ist ein Tabu aber weniger unverrückbar, als es scheint. Und wie jede stillschweigend akzeptierte Regel bedarf es einer kulturellen Übereinkunft. Eine Kultur aber kann sich ändern. Derzeit erforscht der Göttinger Soziologe Franz Walter "Umfang, Kontext und Auswirkungen pädophiler Forderungen in den Milieus der Neuen Sozialen Bewegung sowie der Grünen". Die in die Schlagzeilen geratene Partei hat die Studie in Auftrag gegeben. Zumindest über die kulturellen Hintergründe jener Zeit – von den späten sechziger Jahren bis in die frühen Achtziger – lässt sich jetzt schon sagen, dass so etwas wie der „Schutz“ von Minderjährigen vor so etwas wie den „sexuellen Übergriffen“ der Erwachsenen kaum je Thema war. Im Gegensatz zum Schutz freier Bürger vor dem Zugriff eines Staates, der nicht ganz ohne Grund als autoritär wahrgenommen wurde.

Pädophilie? Oswalt Kolle erforschte "Dein Kind, das unbekannte Wesen"

Seine Autorität stellte dieser Staat nicht mit dem Kampf gegen Misshandlung, sondern gegen „Schmutz und Schund“ unter Beweis. Indiziert wurde ab 1954 alles, was den stickigen Moralvorstellungen in der jungen Bundesrepublik zuwider lief – also alles vom harmlosen „Tarzan“-Heftchen bis zu Weltliteratur wie Henry Millers Roman „Im Wendekreis des Krebses“. Der CDU-Innenminister begründete diese Zensur „mit Bürgern, die sich hemmungslos dem Genuss hingeben und keine ethische Gedankenwelt mehr kennen“. So könne „keine staatliche Ordnung“ ihre Aufgaben erfüllen, schon gar keine christlich-konservative.

Es war genau diese repressive Ordnung, gegen die eine junge Generation spätestens ab 1968 aufbegehrte. Politisch, publizistisch, kulturell. Wie selbstverständlich veröffentlichte der Aufklärer Oswalt Kolle nach „Deine Frau, das unbekannte Wesen“ (1969) in „Zusammenarbeit mit weltbekannten Wissenschaftlern“ den Film „Dein Kind, das unbekannte Wesen“ (1970). Schon das Kleinkind sei ein sexuelles Wesen, die Bedürfnisse Jugendlicher müssten „bejaht“ statt unterdrückt werden. Die neue Freiheit kam den Bedürfnissen mancher Erwachsener entgegen.

Jodie Foster, Brooke Shields, Hamiltons "Nymphchen": Die Stars wurden immer jünger

Das extremste Beispiel der Ausbeutung kindlicher Körper lieferte das berüchtigte dänische Unternehmen „Color Climax“. Bis in die frühen achtziger Jahre produzierte der Verlag unter anderem pure Pornografie mit Kindern im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren für skandinavische Länder, in denen dergleichen nicht verboten war. Das Material galt freilich damals schon als pervers. Erst heute aber dürften die Verantwortlichen wohl weltweit mit langjährigen Haftstrafen rechnen.

Auch im seriösen Kinogeschäft verschob sich in den Siebzigern das Mindestalter der gerne in erotische Händel verwickelten Darstellerinnen zusehends nach unten. Regisseure wie Eric Rohmer machten sich mit Filmen wie „Claires Knie“ einen Namen als feinsinnige Beobachter von allerlei Liebeleien. Bei Fassbinders „Wildwechsel“ störte man sich an der Darstellung eines nackten männlichen Körpers, nicht am Sex mit einer 13-Jährigen. Von Scorseses „Taxi Driver“ (1976) bis zu „Pretty Baby“ von Louis Malle (1978) spielten sexualisierte Minderjährige auch in Filmkunstwerken eine Rolle. Später war dergleichen undenkbar; so wurde etwa Luc Bessons Kassenerfolg „Leon, der Profi“ (1994) um alle Szenen gekürzt, die eine erotische Affäre zwischen dem Helden und der minderjährigen Natalie Portman auch nur andeuteten.

Eine Welt für sich schuf der englische Fotograf David Hamilton mit erfolgreichen Bildbänden wie „Dreams Of A Young Girl“ oder „Age Of Innocence“ und noch erfolgreicheren Filmen wie „Bilitis“ (1977). Mit Vorliebe zeigte er „Nymphchen“ in meist bukolischem Ambiente und so weichgezeichnet, dass sie an Renoir erinnern und exkulpierenden Kunstverdacht wecken sollten. Was Hamilton wirklich im Sinn hatte, ging aus den begleitenden Texten hervor: „Sie stellt sich vor, jemand wäre gekommen und läge auf ihr.“

Auch der Pop, seit jeher Spielfeld der Provokation, wurde expliziter. In Frankreich reüssierte Serge Gainsbourg mit sexualisierten Chansons, das Cover von „Histoire de Melody Nelson“ zeigte die junge Jane Birkin in Lolita-Pose und zerschlissenen Jeans, vor dem nackten Oberkörper einen Teddybär. Noch 1984 landete er mit „Lemon Incest“, einem eindeutigen Duett nebst Video mit seiner damals 13-jährigen Tochter Charlotte, einen Nummer-2-Hit in Frankreich. Ein Cover der Gruppe Blind Faith zeigte 1969 eine Elfjährige mit langen roten Locken, nacktem Oberkörper und „sinnlich“ geöffneten Lippen. Harmlos im Vergleich zu dem später aus dem Verkehr gezogenen Cover von „Virgin Killer“ der Scorpions. Hier räkelte sich eine Zehnjährige, das Geschlecht nur von einer gesprungenen Glasscheibe verdeckt. Eine Zeitschrift nannte das Bild damals die „Sauerei der Woche“, damit hatte es sich damals aber auch schon. Es war nur eine besonders geschmacklose Variante dessen, was im kulturellen Mainstream üblich war.

Selbst die Zeitschrift "Konkret" folgte dem Motto "Mit Marx und Möpsen"

Schön jung? Jodie Foster als Prostituierte in Martin Scorseses Kultfilm „Taxi Driver“, 1976. Sie war 13 und spielte eine Zwölfjährige.
Schön jung? Jodie Foster als Prostituierte in Martin Scorseses Kultfilm „Taxi Driver“, 1976. Sie war 13 und spielte eine Zwölfjährige.

© picture alliance / AP Photo

Axel Springer reagiertes schon 1968 auf die neuen Sehgewohnheiten und einen neuen Markt mit Pärchenmagazinen wie „Twen“ oder „Jasmin“. Letzteres hatte zeitweilig eine Auflage von 600 000 Exemplaren, nicht zuletzt durch üppige Fotostrecken mit lasziven Minderjährigen, die fiktiven Versuchungen zu erliegen drohten: „Sie liebte Pfänderspiele mit starken Bauarbeitern. Die 13-jährige Rita aus Westfalen tat alles, aber auch alles, um Männern zu imponieren. Heute gibt sie sich alle Mühe, doch noch eine anständige Frau zu werden.“ Eine Mühe, bei der Springer heute noch jedem jungen Mädchen gerne behilflich ist.

Vor diesem Hintergrund pochte der Frankfurter „Pflasterstrand“, das Zentralorgan der Sponti-Bewegung, auf den „Wunsch nach Autonomie“. Sie sei die entscheidende „politische Kraft der Siebzigerjahre. Nur um eine Schicht legt sich tiefstes Schweigen – obgleich gerade sie es ist, deren Wünsche am radikalsten abgeschnitten, deren Lebensvorstellungen am entschiedensten gehemmt und deren Sexualbedürfnisse ohne Gnade zerstückelt werden: die Kinder“. Nach dem Arbeiter und der Frau sollte nun auch das Kind von Vormundschaft und Repression befreit werden.

Auch in Kinderläden wurde das Machtgefälle zwischen Alt und Jung oft ignoriert

Wenn das Private politisch ist, so die Logik, ist es das Intimste erst recht. In fortschrittlichen Kreisen zitierte man die Untersuchungen von Anna Freud über die „Psychoanalyse des Kindes“ und berief sich gerne auf Wilhelm Reich und dessen sexualpädagogische Ansätze. So referierte der Sexualforscher Ernst Bornemann in der Fachzeitschrift „Betrifft: Erziehung“ von 1976: „Jeder Aspekt der Erforschung des kindlichen Sexuallebens wird von den Hütern der bürgerlichen Ordnung mit Strafe bedroht.“

Ein damals renommiertes Blatt wie „Konkret“ folgte unter der Ägide von Chefredakteur Klaus Rainer Röhl immer mehr dem Motto „Mit Marx und Möpsen“. Zuvor hatten Intellektuelle wie Hans-Magnus Enzensberger, Walter Jens und Sebastian Haffner da publiziert. Nun gab es Titel wie „Eine Zwölfjährige gibt zu Protokoll: Lolita für einen Sommer“ oder „Vorsicht: Minderjährig! Wie Ehemänner Opfer von Lolitas werden“. Es entsprach der damaligen Lehrmeinung, das „befreite Kind“ auch als „frühreifes Früchtchen“ in die Pflicht zu nehmen.

Gefährdet sind laut „Konkret“ vor allem „Berufsautoritäten“ – durch die Avancen der Schutzbefohlenen. „Jeder Lehrer, der seinem Lehrling in den Ausschnitt greift, jeder Ballettmeister, der seiner Tanzschülerin die Briefmarkensammlung zeigen will, jeder Arzt, der seine Helferin zu intensiv untersucht, treibt Unzucht, wenn der Staat es so will.“ Im „Pflasterstrand“ präzisierte ein anonymer Autor, was man sich unter „Erforschen kindlichen Sexuallebens“ vorzustellen habe. Seit urdenklichen Zeiten würden Erfahrungen an die nächste Generation weitergegeben. „Früher haben die Eltern mit ihren Kindern gevögelt, oder die Kinder haben es repressionsfrei unter Anleitung selbst gelernt, ein Gedanke, der in die Kinderlädenkonzeption eingegangen ist.“ Dieses „unter Anleitung“ markiert und ignoriert zugleich das Monströse am möglicherweise Gutgemeinten, nämlich die Ignoranz des Machtgefälles zwischen Erwachsenen und Kindern – und der Spielräume für Pädokriminelle, die sich damit eröffneten.

Pädophilie, sexualisierte Gewalt, alles wurde zum unschuldigen Spiel

Alle pädophilen Bekenntnisse oder „Provokationen“ weisen eine geradezu neurotische Ich-Bezogenheit der Erwachsenen auf. „Meist war ich ziemlich entwaffnet“, schrieb Daniel Cohn-Bendit in „Der große Basar“. In „Pädophilie heute“ gesteht Dagmar Döring: „Ich war wie betäubt“, in der „taz“ Olaf Stüben: „Ich war eine einzige erogene Zone“. Alle machten sich so lange klein, bis sie den Kleinen auf Augenhöhe begegnen konnten – und alles, alles wurde zum unschuldigen Spiel. Auch sexualisierte Gewalt. Womöglich waren sich selbst Oswalt Kolles „weltbekannte Wissenschaftler“ nicht über die wahren Ausmaße der Verheerungen im Klaren, die sexuelle Gewalt im Kindesalter anrichten kann. Frühe Vorbehalte von Publizistinnen wie Alice Schwarzer oder kritischen Forschern wie Volkmar Sigusch oder Günter Amendt wurden zur Kenntnis genommen. Entscheidende wissenschaftliche Studien über irreversible seelische Schäden – bis hin zur Veränderung des Erbguts der Betroffenen – liegen erst seit den Neunzigern vor. Vorher konnten interessierte Kreise alle Warnungen als „umstritten“ in den Wind schlagen.

Den begehrlichen Blick auf alles vermeintlich Unschuldige gibt es übrigens noch immer, so aufgeklärt wir uns auch wähnen. Ganz unverhohlen ist er auf den Laufsteg gerichtet, auf dem Minderjährige Kleider vorführen. Wohlwollend ruht er auf extrem schlanken Körpern. Und das aktuelle Ideal – auch im Intimbereich – ist nicht zufällig die komplette Haarlosigkeit. Ja, vielleicht waren früher alle verrückt. In 30 Jahren werden wir wissen, wie verrückt wir heute womöglich gewesen sind.

Arno Frank

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