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Debütroman: Die Ohnmacht des Engels

Sten Reen erzählt in „Kornblum“ eine verstörende Liebesgeschichte und geht der Frage nach, wieviel Gefühlsterror eine Liebe vertragen und welche Wunder sie vollbringen kann.

Was wäre passiert, wenn Herr Lehmann, der Held aus Sven Regeners gleichnamigem Roman, sich ernstlich verliebt hätte? Wenn der Blitz in seine stoische Lasst-mich-in- Ruhe-Strategie eingeschlagen hätte? Von seiner chaotischen Schlafhöhle hätte er sich wohl verabschieden müssen, auch von den allnächtlichen Saufgelagen. Und er hätte sich fragen müssen, was er eigentlich mit seinem Leben anfangen will. Genau das passiert Lehmanns Bruder im Geiste, dem verwirrten Robert, in Sten Reens aufregendem Debütroman „Kornblum“. Auch er ist ein bescheidener Mensch, ein sanfter Verlierer, der bestürzend treu ist und sich insgeheim für einen verzauberten Prinzen hält. Doch als eine Frau das endlich erkennt, verwandelt sich sein beschauliches Leben in eine Achterbahnfahrt zwischen Glücksnächten und Albtraumtagen.

Die Stimme des Ich-Erzählers Kornblum scheint aus einer besseren Welt zu stammen, so unheilvoll gelassen klingen seine Sätze, die von einer Liebeskatastrophe erzählen. Gegen alle Wahrscheinlichkeit macht der Leser sich deshalb bis zur letzten Seite Hoffnung, zu der nur der illusionslose Schauplatz Berlin nicht recht passt. Wie Regeners „Herr Lehmann“, spielt der Roman in einer jener tristen Ecken, die ehemals im Windschatten der Mauer lagen und alle Veränderungen heil überstanden haben.

Wenn Kornblum nicht gerade Baugerüste zusammenschraubt oder in seiner Wohnhöhle pennt, säuft er in Hussis Kneipe, in der es immer düster ist und denen, die sich hier zu Tode gesoffen haben, ein Platz am Tresen freigehalten wird. Wer hier Stammgast ist, kann sich Sentimentalität eigentlich nicht mehr leisten, gerade deswegen ist es ein Ort ängstlich gehüteter Freundschaften. Die Beschreibung dieses schrägen Soziotops ist dem unter Pseudonym schreibenden Sten Reen, der als Geburtsjahr 1961 angibt und angeblich aus dem Umfeld des Berliner Theatermachers René Pollesch stammt, so überzeugend gelungen wie die Liebesszenen, die zu den schrillsten der jüngeren deutschsprachigen Literatur gehören.

Es fängt schon verrückt an: Als Kornblum auf einer Parkbank seinen Rausch ausschläft, erscheint er einer Vorübergehenden so engelsschön, dass sie sich unsterblich in ihn verliebt. Sie versucht ihn zu vergewaltigen und folgt ihm in seinen Zwei-Zimmer-Verhau, wo sie ihn – schreiend und weinend vor Glück – vögelt, bis er ohnmächtig wird.

Die nächsten Wochen verbringen die beiden im Bett, Wurst, Wodka und Napfkuchen um sich aufgebaut. Der einsame Kornblum ist fassungslos, hält Theresas Liebesschwüre und Selbstinszenierungen für genial und redet von einem sechsfachen Wunder: Terri als vergnügte Rotzgöre, als singender Vamp, als Heimwerkerin – die er beim Dübeln sogar von hinten lieben darf, als schnurrende Romantikerin, als Lolita, als mütterliche Freundin. Bis aus heiterem Himmel ihre ersten Wutausbrüche auf ihn niedergehen und sich ihre Sauf- und Sextouren häufen.

Bis in die schmerzhaftesten und peinlichsten Winkel forscht Sten Reens Roman der Frage nach, wie viel Gefühlsterror und Demütigungen eine Liebe verträgt und welche Wunder sie vollbringen kann. Dass Terri schwer krank ist, erfährt Kornblum nach einer Notfall-Einlieferung in der Psychiatrie, aber er liebt sie zu sehr, um sich gegen ihre Manipulationen zu wehren. Wie niederschmetternd die Diagnose „Borderline“ ist, will er nicht wissen, auch von seinem Philosophenfreund Hauke nicht, der seinetwegen die halbe Unibibliothek liest und Terris Abstürze liebevoll und klug analysiert – eine berührende Szene schüchterner Freundschaft zwischen zwei Sonderlingen.

Mit konzentrierter Spannung schraubt sich die Geschichte in die rückhaltlose Liebe des Paares hinein, auch wenn beider Leben scheinbar nur aus Hass und brüchigen Versöhnungen besteht. Der Roman baut damit eine ungeheure Fallhöhe auf, der auch zu viele Spruchweisheiten – die schlecht zur Tarnung von Gefühlen taugen – oder ein dick aufgetragener Kneipen-Jargon nichts anhaben können. Banales in banalen Sätzen einfangen zu wollen ist immer ein Fehler.

Deftig-handgreifliche, fast barocke Szenen wie die groteske Verlobungsfeier des Paares, die gekrönt wird von TableDance-Einlagen der weiblichen Gäste, münden in eine zarte Roadnovel voller Freiheitsträume, in deren Hoffnungskraft die ganze Liebe des Autors zu seinen Figuren steckt. Die stammelnden Halbsätze, in denen Terri von ihrer Kindheit berichtet, sind nicht weniger anrührend als die wehrlose Entschlossenheit, mit der Kornblum ihrem verrückten Plan folgt. In hohem Tempo und mit körperlicher Sprachlust steuert Sten Reen trotz einiger Längen im mittleren Teil des Romans auf dieses Finale zu, das aus dem früher so verschlafenen Kornblum eine tragische Gestalt macht.

Sten Reen: Kornblum. Roman. Matthes & Seitz, Berlin 2010. 512 Seiten, 24,80 €.

Nicole Henneberg

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