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Keine gute Puppenstube. Magdalena Bösch in einer Dekameron-Koje.

© Matthias Koslik

„Dekameron“ am Berliner Ensemble: Die Orgie ist immer im Zimmer nebenan

Interaktion ist Pflicht: Das „Dekameron“ als Theaterinstallation mit RambaZamba-Akteuren im Kleinen Haus des Berliner Ensembles.

Schwere Prüfungen habe ihr Gatte ihr auferlegt, seufzt Griselda und räkelt sich im weißen Spitzen-Body auf dem Sofa zurecht. Immerhin: Den Härtegrad der Tests, denen sie sich als bettelarme, von einem Fürsten zur Braut erwählte Bauerntochter unterziehen musste, sieht man ihr nicht direkt an. Sie barmt ihre Erzählung von Kindstötungen und anderen Grausamkeiten, mit denen der designierte Ehemann ihre Ergebenheit habe prüfen wollen, unter spektakulären Kunstwimpern-Augenaufschlägen hervor.

Dazu wird auch ein Pflegefall mit anämischer Hautfarbe und vergleichsweise vitaler Punk-Frisur ins Zimmer gefahren: Es handelt sich um eine lebensgroße Puppe, zu deren Identität die Anwesenden widersprüchliche Angaben machen. Fakt indes ist, dass sich der mondänen Griselda schon bald ein junger Mönch nähert, um unter dem Vorwand der Beichtabnahme unzüchtigen Körperkontakt zu suchen. Und dass ein Kritiker-Kollege kurzerhand verdonnert wird, die Rolle des Abts zu übernehmen und von einem sonnenbebrillten Unterwäsche-Träger Regieanweisungen bekommt.

Waterboarding und wüste Beschimpfungen

Die Szene spielt sich auf einer der vielen charmant abgerockten Sitzgruppen im Kleinen Haus des Berliner Ensembles ab, wo Performer/innen und Zuschauer/innen mehr oder weniger traut beieinandersitzen. Speziell wohnen wir hier der Griselda-Novelle aus dem „Decamerone“ bei – in Grundzügen. Denn natürlich ist der kanonische Text in Thomas Bo Nilssons und Julian Wolf Eickes dramatischer Installation „Dekameron“ nach Giovanni Boccaccio weniger Selbst- als vielmehr Mittel zum interaktiven Zweck. Man kennt solche detailgenauen, ausstattungsorgiastischen Parallelwelten in Berlin vor allem vom Performance-Duo Signa, mit dem Thomas Bo Nilsson früher auch zusammenarbeitete.

Interaktion ist Pflicht in diesen labyrinthischen Parcours, die ein bisschen wie in die Wirklichkeit rückübersetzte Computerspiele wirken und durch die sich die Theaterbesucher selbstständig hindurchbewegen: So etwas wie ein Plot erschließt sich nur, wenn man ihn eigeninitiativ erfragt – und selbst dann lediglich in Bruchstücken. Wer nichts wissen will, erlebt einen selbstverschuldeten performativen Misserfolg. Und zwar einen durchschlagenden. Wie häufig auch bei Signa – so viel Überindividuelles lässt sich immerhin ausplaudern – geht es im „Dekameron“ letzten Endes um eigenwillige Riten und eine wie auch immer geartete Form von Hades. Zu entschlüsseln sind ferner düstere Familien- bzw. Soziotopsgeheimnisse und zu erleben sexuelle Ausschweifungen, die sich hier in den Vorbereitungen zu einer schließlich unter windigen Vorwänden abgeblasenen „Beachparty“ andeuten. Und es geht um Gewalt: In einem Zimmer vollführt eine junge Frau unter Bezichtigungen der Umstehenden eine Art Waterboarding. Eine andere wird neben der Party-Location von einer Dienerin unter wüsten Beschimpfungen in den Straßenschotter niedergerungen.

Szenisch wirkt vieles recht oberflächlich

Zu alledem nähert sich zumindest den Spiralblockinhabern unter den Installationsbesuchern immer mal wieder ein Schauspieler mit der Bitte, ihn lobend zu erwähnen – er sei hier Teil eines Castings: Theater im Theater. Irgendwo wird auch mal eine Puppe, die adrett auf einem Bett lümmelt, ausdauernd dafür heruntergeputzt, an aristokratischen NoGos wie „Germany’s next Topmodel“ und dem „Dschungelcamp“ teilgenommen zu haben: Manchmal fallen die Informationen so spärlich und/oder gaga aus, dass man zur Entwicklung der Nachfragelust wirklich ein überdurchschnittlich neugieriges Naturell mitbringen muss.

Szenisch wirkt vieles (noch) recht oberflächlich und beliebigkeitsverdächtig, zumal bezogen auf die Textreferenz des Abends: Boccaccios Novellensammlung, in der sich sieben Frauen und drei Männer vor der anno 1348 in Florenz wütenden Pest in ein Landhaus flüchten und zehn Tage lang Geschichten erzählen. Was indes unter Thomas Bo Nilssons und Julian Wolf Eickes Regie wirklich hervorragend funktioniert, ist das Zusammenspiel mit den Akteuren des integrativen Berliner Theaters RambaZamba, die hier hauptsächlich als Diener spektakulärer aristokratischer Zombie-Puppen buchstäblich die Strippen ziehen. Die Darsteller selbst haben wirklich großen – und mitunter auch sehr infektiösen – Spaß an der Veranstaltung.

Wieder am 4. Juni sowie 8. bis 10. Juni

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