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Der Jugend eine Stimme geben. Demonstrant auf dem Tahrir-Platz in Kairo.

© dpa

Demokratie: Die verschwendete Zukunft

Demografie und Demokratie: Mit seinem Verhalten gegenüber autokratischen Systemen belügt sich der Westen selbst.

Wie immer der Aufbruch in den arabischen Ländern weitergeht, eine Frage haben die Demonstranten von Tunis und Kairo unwiderruflich auf die Tagesordnung gesetzt. Was ist das – demokratische Realpolitik im 21. Jahrhundert? Politiker, Experten und Öffentlichkeit stellen je nach ihrer Rolle mehr oder weniger offen fest, dass der Westen seine eigenen Werte verrät, wenn er aus Stabilitäts- und Wirtschaftsinteressen nahöstliche Despoten unterstützt, die sich um die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung nicht kümmern.

Das alles trifft zu, doch was folgt daraus? Warum fordert der deutsche Außenminister den Rückzug Mubaraks nicht geradeheraus und sofort? Warum schlagen sich der US-Präsident oder die EU nicht klar auf die Seite der Demonstranten? Vor allem im Fernsehen, wo es eindeutig zugehen muss, ist die Neigung groß, den Spieß jetzt einfach umzudrehen. Doch das ist journalistischer Gratismut.

Der Westen hat sich mit seiner Stabilitätspolitik tatsächlich schwer kompromittiert bei den Menschen in Tunis oder Kairo. Unglaubwürdigkeit dieses Kalibers kann man nicht dadurch beseitigen, dass die demokratischen Führer auf einmal die Fahne mit ihren Werten schwenken. Das hieße, gleich wieder einen Fehler zu machen. Denn wer von denen, die in diesen Tagen ihr Leben riskieren, um ihre vom Westen unterstützten Autokraten loszuwerden, sollte es nicht als gesteigerte Heuchelei und Einmischung empfinden, wenn dieser gleiche Westen sich als Vorbild und Ratgeber aufspielt, sobald die alte Strategie nicht aufgegangen ist? Die Aufrufe zu moralischer Eindeutigkeit sind bei ehrlicher Betrachtung nur gesinnungsethische Übungen für unser eigenes Selbstwertgefühl.

Ein anderer, der abwägende Teil unserer Öffentlichkeit weist darauf hin, dass auch der hoffnungsvolle Aufbruch dieser Tage nichts daran ändern wird, dass zwischen dem Möglichen und Machbaren realistisch abzuwägen hat, wer politisch verantwortlich handeln will. Auch die drohende islamistische Radikalisierung darf man nicht unterschätzen.

Eine komplexe Wirklichkeit, „die Welt, wie sie ist“, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schreibt, bleibe der Rahmen, in dem Politik zu machen ist, entlang von Interessen, in Grauzonen, mit Kompromissen auch gegenüber Diktaturen. Der Handelnde macht sich die Hände schmutzig; das ist wahr. Aber als Diagnose auch bequem. Denn der leidenschaftliche Kampf der jungen Frauen und Männer im Nahen Osten führt eine geschichtliche Erfahrung vor Augen. Die nämlich, wie Max Weber sagt, dass man das Mögliche nicht erreicht, wenn man nicht immer wieder nach dem Unmöglichen greift. In jedem Verantwortungsethiker muss der Gesinnungsethiker, in jedem demokratischen Politiker müssen die Maximen von Freiheit und Menschenrecht lebendig sein, damit die Antworten auf die Erfordernisse der Realität nicht in Zynismus und Machtkalkül ersticken.

Wie ist sie also, diese Welt? In der arabischen Gegenwart erweist sie sich als so komplex, dass nicht nur realpolitisch, sondern auch gesinnungsethisch zu kurz springt, wer einfach „Menschenrecht statt Stabilität“ ausruft. Man wirft damit kurzerhand ein tragendes moralisches Motiv der westlichen Nahostpolitik über Bord, das Existenzrecht Israels.

Wer mit kühlem Kopf vor Destabilisierung oder islamistischer Gefahr durch den arabischen Aufbruch warnt, steht umgekehrt als schlechter Realpolitiker da. Denn das Unheil, das drohen könnte, das Unheil der Radikalisierung wäre ja auch ein Ergebnis der westlichen Zusammenarbeit mit autokratischen Despoten. Zu übersehen, dass unter dem altersstarren Regiment der Alis und Mubaraks unmöglich auf Dauer Bevölkerungen ruhig bleiben werden, die zur Hälfte jünger als 25 Jahre sind, die über Fernsehen, Bildung, Internet wissen, dass es ein besseres Leben gibt, die sich mithilfe von Facebook und Twitter organisieren, Liebe, Ehe, Sex aber nicht frei erleben können, deren zweite, dritte, achte Söhne auf der Suche nach Einkommen und Arbeit in die Städte strömen – das alles nicht einzukalkulieren war eine miserable realpolitische Rechnung. Die Demografie der Jungen treibt unweigerlich Hoffnungen, Wünsche, Träume, Bewegung aus. Sie drängt zur Freiheit. Und zur Gewalt, wenn sich Wege zur Demokratie nicht öffnen lassen.

Dieser youth bulge, der Jugendüberschuss, hat nicht zuletzt durch die Veröffentlichungen des Sozialwissenschaftlers Gunnar Heinsohn hierzulande eine gewisse Öffentlichkeit erreicht. Der Überfluss an jungen Männern wird überwiegend als Drohung verstanden, in der Bilder von islamistischen Selbstmordattentätern und Terroristen aufscheinen. Sie erinnert aber auch an ferne Zeiten in Europa, als hohe Geburtenziffern mit dem Wort von der „Blutpumpe“ gefeiert wurde. Schließlich wurde hier das Kanonenfutter für den Ersten Weltkrieg geboren. Alte Machthaber gehen verschwenderisch mit dem Leben dieser youth bulges um – so verschwenderisch wie junge Menschen mit ihrem eigenen, wenn sie eine bessere Zukunft finden wollen, ja tollkühn, wenn jede Aussicht darauf verbaut ist.

Nach Erkenntnissen der UN hat der Aufruhr in Tunesien 291 Tote gekostet. Die Zahl ist kaum registriert worden, weil die Ereignisse in Ägypten sie überlagert haben. Dort sieht man auf dem Tahrir-Platz junge Männer mit blutigen Platzwunden, die laut rufen, dass sie ihr Leben hergeben würden für die Freiheit. Ihr Pathos geht unter die Haut, ihre Furchtlosigkeit ist uns aber auch fremd. Wir ahnen, wie viel Gewalt daraus entstehen kann, wenn derart todesmutige Hoffnungen enttäuscht oder instrumentalisiert werden.

Die Demografie der arabischen Länder müssen wir zuallererst als Tatsache hin- und als Chance annehmen. Wie konnten wir sie in den realpolitischen Rechnungen übersehen? Das ist das eigentliche moralische Versagen des Westens: Wir waren gleichgültig gegenüber den Hoffnungen, die Millionen Menschen von Freiheit und dem besseren Leben träumen lassen. Dabei müssten wir am besten wissen, dass es sich bei diesen Träumen um mächtige Faktoren der Weltgeschichte handelt.

Sie sind der Stoff, aus dem die Demokratie entstanden ist. Der Stoff, an dem sie gewachsen ist, als Abraham Lincoln mit der Sklaverei gebrochen hat, als hundert Jahre später Martin Luther King die Bürgerrechtsbewegung angeführt hat. Der Stoff, mit dem der Geltungsbereich der Demokratie ausgeweitet werden konnte, als 1989 die Mauer einstürzte.

Es gibt Momente, in denen Hoffnungen und Träume mehr bewegen als alle Diplomatie, Berufspolitik und Taktik. Diese Momente müssen von denen verstanden, gesehen und gefühlt werden, die an den universellen Wert der westlichen Verfassungen und der UN-Charta glauben, dass jeder Mensch mit den gleichen Rechten und dem gleichem Anspruch auf Freiheit geboren wird. Doch der Westen hat sich unter der Hand angewöhnt, Demokratie ganz defensiv, als Besitzstand derjenigen zu begreifen, die sie schon haben.

Der chinesische Aufstieg hat den Westen darüber belehrt, dass er ökonomisch nicht mehr unangefochten die Nummer eins ist. Der arabische Aufbruch, der von Freiheitssehnsucht so eindeutig angetrieben wird wie sein Ausgang ungewiss ist, hält uns den Spiegel unserer eigenen Demografie vor. Womöglich konnten unsere politischen Führer das Unübersehbare nicht sehen, weil da längst ein Splitter im eigenen Auge ist. Wir leben in alten Ländern, weniger als ein Viertel der Bevölkerung ist in Deutschland jünger als 25 Jahre. Auch die Zukunft dieser jungen Menschen steht nicht im Zentrum der Politik, sondern nur in dem der Sonntagsreden.

Wir sind ökonomisch schwächer, demografisch alt und damit militärisch gebremst, moralisch verunsichert. Oft genug in ihrer Geschichte sind die reichen Demokratien in ärmere Länder gekommen, haben von den westlichen Werten geredet, aber doch nur Geld und Macht gemeint. Der moralische und reale Einfluss des Westens auf die Entwicklung in den arabischen Ländern ist begrenzt. Der stärkste geht womöglich von der Rede aus, die Barack Obama in Juni 2009 in Kairo gehalten hat, ganz aus dem Geist der amerikanischen Verfassung und Freiheitsrechte. Der Westen muss künftig auch Demokratie meinen, wenn er schon von seinen Werten redet.

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