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Kultur: Demokratie im Tempo

Frank Deckers Essays zur Politik in Deutschland.

Um die richtigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, wurde die Politikwissenschaft im Nachkriegsdeutschland als „Demokratiewissenschaft“ konzipiert. Ihr Gegenstandsbereich reicht demnach grundsätzlich über eine Beschäftigung mit der Tagespolitik hinaus. Das schließt nicht aus, sondern erfordert es sogar, dass sich Politikwissenschaftler in aktuelle politische Diskussionen einmischen, dass sie Missstände deutlich machen und Reformüberlegungen anstellen. Gerade diese öffentliche Aufgabe läuft aber Gefahr, in der heutigen Universität auf dem Altar der Bologna-geschuldeten Effizienz- und Drittmittelorientierung sowie der spezialisierten Methodenorientierung im permanenten Evaluierungsstress geopfert zu werden. Wissenschaftssprache als verklausulierte Fachsprache kann dann eine breitere Öffentlichkeit nicht erreichen. Kluge, reflektierte Anstöße sind im Zuge der Stimmungsdemokratie jedoch notwendiger denn je.

Gott sei Dank gibt es in der deutschen Politikwissenschaft immer noch engagierte Einzelpersonen, die sich in Debatten einklinken und gehört werden. Zu ihnen zählt Frank Decker, der seit 2001 an der Universität Bonn lehrt. In einem neuen Band hat Decker die wichtigsten seiner in diesem Zeitraum publizierten Meinungsartikel noch einmal vorgelegt. Diese decken eine große Bandbreite des vorhandenen Meinungsspektrums in Monats-, Wochen- und Tageszeitungen ab. Frank Decker hinterfragt immer wieder den Zustand der Demokratie, er will in den großen vier Bereichen „Parteien“, „Verfassung“, „Europa“ und der „Demokratie an sich“ behutsam und überlegt reformieren, ohne populistische Tendenzen zu befördern. Populismus ist ohnehin ein wichtiges Stichwort in Deckers Argumentationen, wie der Buchtitel bereits verdeutlicht. In Deutschland gibt es zwar im Unterschied zu unseren Nachbarländern keine starke rechtspopulistische Kraft, dennoch macht Decker in vielen Bereichen die „altbekannte Sehnsucht nach dem starken Mann“ aus. Hinter der von Journalisten oder wirtschaftlichen Interessenvertretern häufig vorgetragenen Forderung, die politischen Entscheidungsträger mit mehr Autorität und Handlungsmacht auszustatten, verbirgt sich seiner Ansicht nach ein falsches Verständnis von den Konsenszwängen der heutigen Politik.

Der von linker wie rechter Seite geforderten Einführung direktdemokratischer Verfahren auf Bundesebene steht Decker skeptisch gegenüber. Die in den Ländern bestehenden Möglichkeiten der „Volksgesetzgebung“ seien dorthin nicht übertragbar. Würde man sie einführen, käme es über die rechtlichen Zulassungsbedingungen zu Dauerstreitigkeiten vor dem Bundesverfassungsgericht. Ungelöst sei auch die Frage, wie der Bundesrat in ein Volksgesetzgebungsverfahren sinnvoll integriert werden kann. Ein anwendbares Konzept direkter Demokratie müsste sich Decker zufolge auf zwei Elemente beschränken: eine „Veto-Initiative“ gegen bereits beschlossene Gesetze und ein von der Regierung anzuberaumendes Referendum.

Fraglich bleibt, ob die institutionellen Reformvorschläge eine Chance haben, in die Praxis umgesetzt zu werden. Decker betont zu Recht, dass es nicht darum gehen kann, das politische System „auf der grünen Wiese“ neu zu errichten. Ob seine Forderung, die Ministerpräsidenten in den Ländern direkt zu wählen oder das in der Tat komplizierte System von Erst- und Zweitstimme bei Bundestagswahlen abzuschaffen, dieser Maßgabe entspricht, ist zu bezweifeln. Deckers Vorschläge sind gleichwohl behutsam und ausgewogen formuliert und regen allein durch den lesefreundlichen Schreibstil dazu an, über die Schwächen des politischen Systems und den gegenwärtigen Zustand der deutschen Parteienlandschaft nachzudenken. Die Beiträge machen deutlich, in welch rasantem Tempo sich die Bedingungen verändern, unter denen heute Politik gemacht wird. Florian Hartleb

Frank Decker: Wenn die Populisten kommen. Beiträge zum Zustand der Demokratie und des Parteiensystems. Springer VS, Wiesbaden 2013. 256 Seiten, 24,95 Euro.

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