zum Hauptinhalt
Autorität und Leere. Eine Impression aus dem US-amerikanischen Vorwahlkampf.

© imago/UPI Photo

Demokratie und politische Erschöpfung: Die Sehnsucht des Volks nach starker Führung

Politische Erschöpfung nährt den Wunsch nach charismatischer Führung. Bürgertugend und Engagement müssen diese Führerpersönlichkeiten in Schach halten.

Dem Namen nach sei es eine Demokratie gewesen, der Sache nach aber die Herrschaft des ersten Mannes. So hat der Historiker Thukydides die Blütezeit der Demokratie im Athen des Perikles gekennzeichnet: Der unmittelbare Einfluss des Volkes auf die athenische Politik erschöpfte sich im Wesentlichen darin, dass es den Plänen und Vorgaben des Perikles folgte, und der wiederum war so klug und weitblickend, dass er das Volk nicht überforderte.

Gleichzeitig durfte er das Volk, also die vollberechtigten männlichen Bürger Athens, aber auch nicht unterfordern, weil es sonst begonnen hätte, sich eigene Projekte auszudenken, und das hätte zwangsläufig zu inneren Parteibildungen geführt, durch die sich die demokratische Partei in Athen geschwächt hätte. Der Historiker Thukydides hat den Politiker Perikles als großen Glücksfall der Demokratie gezeichnet: einen Mann, der das komplexe System von Meinung und Gegenmeinung, Entschluss an einem Tag und Rücknahme am nächsten in der Balance gehalten hat.

Der Wunsch nach einem starken Führer schlägt das Vertrauen in das Wechselspiel der Mehrheiten

Die thukydideische Beschreibung der demokratischen Blüte Athens hilft zu verstehen, warum wir uns jetzt wieder einmal in einer Phase befinden, in der viele Menschen den Wunsch nach einem starken Führer höher stellen als das Vertrauen in das Wechselspiel der Mehrheiten. Der Zweifel an der Selbstführungsfähigkeit des Volkes, der darin zum Ausdruck kommt, gehört ebenso zur Geschichte der Demokratie wie das übergroße Selbstvertrauen von Mehrheiten, die zu wissen glauben, was richtig und falsch ist.

Weil beides, die Sehnsucht nach dem starken Führer wie die Überzeugtheit von der eigenen Unfehlbarkeit, in die politische Katastrophe führen können, ist die neuzeitliche Demokratie einen anderen Weg gegangen als die der Antike: Sie hat die starken Führer wie die unbeirrbaren Mehrheiten des Volkes einer Verfassung unterworfen, in der die Spielräume dessen, was sie wollen dürfen, festgelegt sind. Die Verfassung ist die Kandare, mit der in der modernen Demokratie ein starker Willen in Zaum gehalten wird.

Gefährlich für die Demokratie wird es dann, wenn starke Führer oder Mehrheiten des Volkes die Verfassung ändern und sie so umgestalten, dass sie ihrem eigenen Willen nicht mehr im Weg steht: Präsidenten in Afrika, die in der Verfassung festgeschriebene Amtszeitbegrenzungen aufheben, und das nicht selten durch ein Plebiszit des Volkes; politische Parteien oder deren starke Männer in Mittelosteuropa, die den Hüter der Verfassung, die Verfassungsgerichtsbarkeit, ausschalten und das kritische Korrektiv demokratischer Meinungsbildung, die freie Presse, zum Schweigen zu bringen versuchen; Teile der US-amerikanischen Wählerschaft, die einem Donald Trump zujubeln, der Recht und Gesetz verhöhnt und so tut, als ließen sich die Aufgaben einer Weltmacht nach Gutsherrnart erledigen. Der französische Politiktheoretiker Étienne de La Boétie, ein Freund Montaignes, hat im späten 16. Jahrhundert von einer Neigung des Volkes zur „freiwilligen Knechtschaft“ gesprochen. Derartiges lässt sich zurzeit erneut beobachten.

Wehe, die Verfassung kommt unter die Räder

Die Überlegung La Boéties ist auch deswegen so bemerkenswert, weil sie mit der allzu einfachen Vorstellung bricht, wonach die Herrschaft des Volkes und die Machtausübung eines Einzelnen in einem unversöhnlichen Gegensatz stehen. La Boétie hat als Beispiel dafür den Untergang der römischen Republik genommen, als selbst die Ermordung von Anführern der Bürgerkriegsparteien nicht dazu führte, dass die stadtrömische Bevölkerung zu ihrer alten Freiheitsliebe zurückfand, sondern sich sogleich auf die Suche nach einem neuen Führer machte.

Oswald Spengler hat am Beginn des 20. Jahrhunderts in einer ähnlichen Situation ganz andere Akzente gesetzt und vom Aufstieg der Caesaren gesprochen, der auf das Ende des Liberalismus folgen werde. Spengler hat geglaubt, den Anbruch einer weltgeschichtlichen Epoche zu beschreiben, aber was er feierte, dauerte dann gerade einmal zwei Jahrzehnte, und der, den er für den stärksten der starken Männer hielt, Mussolini, hat sich am Schluss als deren schwächster erwiesen. Étienne de La Boétie hat einen schmalen Essay über die freiwillige Knechtschaft geschrieben, Oswald Spengler zwei dickleibige Bücher über den Untergang des Abendlandes. La Boétie war der bessere Analytiker.

Was beide miteinander verbindet, ist der Blick dafür, dass es das Volk selbst war, das die Herrschaft des Volkes beendete – weil es objektiv überfordert war, wie Spengler meinte, weil es erschöpft war und sich darum überfordert fühlte, wie La Boétie herausarbeitete. Max Weber hat dagegen die Idee verfolgt, das Problem zur Lösung zu machen, als er den von ihm entwickelten Idealtyp der charismatischen Herrschaft als Revitalisierungsmittel für die rational bürokratische Herrschaft einzusetzen vorschlug.

Lassen sich Charismatiker Beschränkungen unterwerfen?

Der Mann an der Spitze, dem von seiner Anhängerschaft außeralltägliche Fähigkeiten zugeschrieben wurden, sollte gerade nicht aus dem System der demokratischen Herrschaft herausführen, sondern ihm neue Kraft zuführen. In der Vorstellung Max Webers war dies das am besten geeignete Heilmittel gegen die einschläfernde Wirkung, die von den Routinen des politischen Alltags ausging.

Aber wie lässt sich ein solcher Charismatiker den Beschränkungen der Verfassung unterwerfen? Als Weber 1920 starb, waren die Verhältnisse noch nicht so weit gediehen, dass man sich darüber größere Gedanken machen musste. Max Weber hat darauf gesetzt, das Charisma des Außeralltäglichen lasse sich durch die Verfassung des Staates und den bürokratischen Betrieb domestizieren. Darin hat er sich getäuscht. Worin es sich indes nicht getäuscht hat, war die Sehnsucht von Teilen des Wahlvolks nach einem starken Führer, dessen Stärke in der Beherrschung des Außeralltäglichen bestand. Je komplexer die Konstellationen, je ungewisser die Zukunft, desto ausgeprägter der Wunsch nach einem Führer, der Komplexität und Ungewissheit beherrscht.

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa ist eine der verheerenden Kosten, die von sogenannten starken Männern verursacht wurden. Das muss nicht grundsätzlich so sein, und ist wohl auch nicht immer so gewesen, aber es sollte ein Warnschild für diejenigen sein, die im Begriff stehen, sich ihrer politischen Erschöpfung hinzugeben und in die freiwillige Knechtschaft zu flüchten. In jedem Fall ist darauf zu achten, dass die starken Männer und Frauen im Rahmen der Verfassung bleiben und deren Grenzen nicht überschreiten. Die Süderweiterung des Europaprojekts, in deren Verlauf Portugal, Spanien und Griechenland aufgenommen wurden, war durch die Vorstellung motiviert, diesen Ländern, die sich gerade aus einer Diktatur herausgearbeitet hatten, einen Rahmen zu verschaffen, der sie an einem Rückfall hinderte. Auch bei der Osterweiterung der EU spielte diese Überlegung eine ausschlaggebende Rolle, nur ist die EU zu schwach, um für die Respektierung dieses Rahmens zu sorgen.

Bürgertugend ist die wichtigste Voraussetzung für das Funktionieren einer Demokratie

Die klassische Vorstellung der Bürgertugend ist die Alternative dazu, der Sehnsucht nach starken Führern nicht die Zügel schießen zu lassen. Bürgertugend ist die wichtigste Voraussetzung für das Funktionieren einer Demokratie. Sie ist auf der Vorstellung begründet, dass es nicht so sehr darum geht, Ansprüche gegenüber seinem Land geltend zu machen, sondern darüber nachzudenken, was man für sein Land tun kann, zumal dann, wenn es vor besonderen Herausforderungen steht.

Nicht die Dresdner Pegida-Demonstranten, die unter anderem Putin als starken Führer gefeiert haben, sind Repräsentanten von Bürgertugend, sondern das sind die vielen freiwilligen Helfer, die bei der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge einer oftmals überforderten Verwaltung beispringen. Statt nach dem starken Führer zu rufen, haben sie selbst Stärke gezeigt. Der Ruf nach Stärke ist das Eingeständnis eigener Schwäche; das Handeln und Tätigsein, so Hannah Arendt, begründet dagegen eine Erfahrung eigener Stärke, die gegen die Sehnsucht nach fremder Stärker immunisiert.

Herfried Münkler lehrt Theorie der Politik an der Humboldt-Universität und hat kürzlich zusammen mit Grit Straßenberger bei C. H. Beck das Buch „Einführung in die politische Theorie und Ideengeschichte“ veröffentlicht.

Herfried Münkler

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false