zum Hauptinhalt
Der Mensch als Monster. Einfache Gegensätze: Wer nicht radikal gut ist, ist abgrundtief böse – Ausschnitt aus Hieronymus Boschs „Kreuztragung Christi“ (um 1450).

© akg-images / Paul M.R. Maeyaert

Demokratie versus Dämonie: In Krisenzeiten malt der Mensch den Teufel an die Wand

Der Begriff des Bösen hat wieder Konjunktur in den öffentlichen Debatten, bei Politikern, in den Talkshows, aber auch bei Philosophen und Rechtsgelehrten. Dieses Denken in einem Schwarzweiß-Schema ist gefährlich.

Von Caroline Fetscher

Auf der alten Kinderschallplatte vom „Wolf und den Sieben Geißlein“ tanzten vorn auf der Polydor-Hülle die unschuldigen weißen Geißen im Kreis um einen Baum. Auf der Rückseite starrte aus grünen Schlitzaugen der finstere Wolf die Betrachter an. Am Schluss sangen die Geißlein: „Der böse, böse Wolf ist tot!“, und das Bedrohliche schien gebannt.

Jahrhundertelang dominierte die primitive Dichotomie von Gut und Böse die Märchen der Kinder und die Mythen der Erwachsenenwelt. Mit der Aufklärung schob sich der schlichte Zwiespalt ins Triviale, geeignet für Kinderzimmer oder Kitschroman, nicht aber für reiferes, differenziertes Denken. Im trivialen Kontext bleibt die Frage unbeantwortet, warum der Wolf, der Räuber, der Mörder böse sind. Das Triviale zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die Lage eindeutig ist: Die sind eben so. Das hat ontische Qualitäten, es suggeriert Gegebenheiten, an denen nicht zu rütteln ist.

Im aufgeklärten Kontext hat das vielfältige Warum jedoch erhellende Wirkung. Und man sollte alarmiert sein, wenn es im Diskurs der Gegenwart quasi von Wölfen nur so wimmelt: Das Böse ist wieder da. Jetzt, in der Dauerkrise, blicken wir zurück auf ein Jahr voller Manifestationen des „Bösen“. Es war am Werk beim Osloer Attentäter, bei den neonazistischen Serienmördern in Deutschland, bei Libyens Diktator Gaddafi, bei meuchelnden Taliban oder leugnenden Pädokriminellen. Nimmt man den öffentlichen Diskurs beim Wort, dominierte das Böse einen großen Teil der zeitgenössischen Chronik – nicht erst in diesem Jahr.

So hat sich die Semantik des Dämonischen wieder eingeschlichen in den Alltag, ob es um Fundamentalisten aller Art geht, um kindliche Killer in Klassenzimmern, missbrauchende Priester oder Gräueltaten in Geschichte und Gegenwart. Dass der Vatikan und Sekten den Begriff noch benutzen, erstaunt weniger als die Tatsache, dass „das Böse“ sich auch in der kulturkritischen Reflexion wiederfindet, in Leitartikeln, Feuilletons und bei Politikern. Die Mär vom Dämonischen inspirierte nicht nur George W. Bush zu der von ihm proklamierten „Achse des Bösen“.

Wer hat Satan eingeladen? Wer die Wölfe ausgewildert? War das Böse nicht von der Aufklärung für ebenso tot erklärt worden wie Gott von Nietzsche, und gehörte es nicht allenfalls den Analphabeten der armen Welt an, die vom „Satan USA“ sprachen? Frappierend am aktuellen Bösen ist die Selbstverständlichkeit, mit der es auftaucht, als sei die alte Dichotomie nie aufgelöst worden. In seiner Studie „Das Böse oder das Drama der Freiheit“ fasst Rüdiger Safranski das Böse als Teil des Potenzials menschlicher Freiheit auf. Der Philosoph stieg dafür zum mythischen Grund der Gattungsgeschichte hinab und förderte die Erkenntnis zutage, das Böse sei die Bezeichnung für das Bedrohliche, das freiem Bewusstsein begegnen und von ihm getan werden könne. Es begegne einem dort, wo Sinnverlangen unbeantwortet bleibt, im Chaos, in der Entropie, im leeren Weltall. Obendrein, so Safranski, könne das menschliche Bewusstsein Grausamkeit auch einfach so wählen, um ihrer selbst willen.

Ähnlich schlussfolgert der Kriegsreporter und Psychotherapeut Eugen Sorg, der unlängst das Buch „Die Lust am Bösen. Warum Gewalt nicht heilbar ist“ veröffentlichte und schon im Titel die dräuende Mischung aus Faszination und Fatalismus liefert, wie sie in der von ihm behaupteten schieren Lust am Bösen aufscheint. Wer tötet, foltert, quält, der sei weder durch Erziehung noch Traumata dazu gelangt, meint Sorg, sondern wolle ethische Barrieren durchbrechen. Da es in dieser Dynamik weder Zweck noch Genese gebe, sei die Neigung zur Gewalt nun einmal nicht heilbar.

In Krisenzeiten fallen die Menschen in infantile Muster zurück. Das Böse ist dann wahlweise der Ausländer, Investmentbanker oder Arbeitslose.

Das Böse, meint wiederum der Gerichtspsychiater Reinhard Haller, sei „eine Grundkonstante des menschlichen Seins“. Seine Studie „Das ganz normale Böse“ – der Titel lehnt sich an Hannah Arendts „Banalität des Bösen“ an – wurde 2011 neu aufgelegt. Haller erklärt, seine Erkenntnisse habe er in Haftanstalten gewonnen, dort habe sich für ihn „die Kontur des Bösen entwickelt“. Faszination beim breiten Publikum löst auch der Anwalt Ferdinand von Schirach aus, der in seinen Bestsellern abscheuliche Straftaten schildert. „Der Richter erkennt den Begriff des Bösen nicht“, erklärt der Autor, im Strafprozess werde „aus dem Bösen eine Straftat. Für die Gesellschaft bleibt das Böse immer das Unfassbare, das Unbegreifliche, das Dunkle.“ Er folgert: „Wer das einmal hatte, wird es nicht mehr los.“

Solche Äußerungen sind derzeit in hohem Maße Talkshow-tauglich. Nach der Logik dieser Beschwörer des Bösen müssten eigentlich ganze Gesellschaften, die in barbarische Praktiken verstrickt waren – insbesondere Nachkriegsgesellschaften – unfähig geworden sein, sich vom „Bösen“ zu lösen. Fortschritt und Lernfähigkeit, Zivilisierung und Demokratisierung erscheinen dann als nahezu unmöglich.

Gemeinsam ist all den Schilderungen, dass sie über den Begriff des Bösen Dekontextualisierung betreiben, regressive Enthistorisierung. Es wird verdrängt und vergessen, dass wir erkennen können, wie gesellschaftliche Diskurse und Praktiken und eben nicht mythische Entitäten das Handeln aller mitprägen, ob Täter oder Nichttäter. „Böse Taten“ geschehen in keiner Gesellschaft außerhalb von deren Kontext. Die mittelalterliche Praxis des Vierteilens oder Räderns von „Sündern“ war damals allgemein akzeptiert. Wer als Nationalsozialist die Juden Europas verfolgte, war sich der Zustimmung eines Großteils der Gesellschaft und der Eliten des Systems gewiss. Noch die Neonazis, die heute durch die Straßen ziehen, sehen sich in ihrer Ideologie durch latenten Fremdenhass und Antisemitismus ermuntert. Sexualstraftäter verwenden beim Darlegen ihrer Motivation oft das gängige Vokabular der Frauenfeindlichkeit, Pädokriminelle machen es sich zunutze, dass Kinder in der Gesellschaft weniger Rechte haben.

All das entschuldigt nichts. Im Gegenteil: Durch diese Kontexte entsteht mehr Verantwortung, sowohl für den Täter als auch für die Gesellschaft, aus der er stammt. Kontexte erklären, sie erhellen. Der Begriff des Bösen aber erklärt nichts. Er hat noch nie etwas erklärt, er wird das auch nie leisten. „Das Böse“ entsolidarisiert eine Gesellschaft, indem es sie entpolitisiert. Mit dem Begriff lässt sich als gruseliges Spektakel abtun oder konsumieren, was der tieferen Analyse bedürfte. Schon Krimis, Horrorfilme und Thriller mit ihrer Faszination und ihrem Empörungsgenuss bieten massenhaft Abwehrmechanismen gegenüber der Analyse und Trauer angesichts von Destruktivität.

Drei große „narzisstische Kränkungen der Menschheit“ registrierte der Philosoph Hans Blumenberg. Als Kopernikus begriff, dass die Erde um die Sonne kreist, wurde die Heimstatt der Menschheit aus dem Zentrum an die Peripherie des Kosmos geschleudert. Charles Darwin zog den Schleier vom Paradies: Nicht Gottes Kreaturen Adam und Eva, sondern Millionen Jahre an Evolution brachten den Menschen hervor. Doktor Freud schließlich erklärte, wir seien nicht Herr im eigenen Haus, sondern vom Unbewussten im Keller der Psyche mitbestimmt. In permanenter Verhandlung zwischen Anteilen der Psyche entstehen die menschlichen Handlungen, weder von Göttern noch Teufeln regiert. In Verhandlungen zwischen Individuen und Gruppen wiederum entstehen Gesellschaften und deren soziale Praxis.

Der radikale Wandel von Deutungsmustern ermöglichte Rechtsnormen. Aufgeklärtes Entsetzen angesichts grausamer Taten bezieht sich daher nicht auf „das Böse“, sondern auf das Unethische, das Antisoziale, Pervertierte, Kriminelle, Pathologische. Es begreift die Täter und Taten als Appelle zur Ursachensuche. Wenn heute das Böse Konjunktur hat, verdankt es sie dem für Krisenzeiten typischen Rückfall in infantile, magische Muster. Da gibt es gern wieder einen bösen Wolf, der wahlweise Ausländer, Investmentbanker oder Arbeitsloser sein kann, wenn nicht ein schlechtes Karma oder die miserable Konstellation der Sterne schuld sind. Wer Wolfs-Chimären anruft, entmündigt sich. Das Böse als postmoderner Sündenbock ist gerade in Krisen alles andere als eine produktive Idee.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false