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Kultur: Demokratie, wo bist du?

Jürgen Habermas spricht in Berlin über Europa

Immer wieder erhebt sich Jürgen Habermas hinter dem Tisch mit den Mikrofonen, tritt dicht an den Rand des Podiums oder lehnt sich ans Vortragspult – und hört zu. Folgt aufmerksam den Fragen, die ihm aus dem schon lange vor Beginn seines Vortrags zur „Krise der europäischen Union im Lichte einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ vollbesetzten Audimax der Humboldt-Universität gestellt werden. Der Philosoph, der am heutigen Sonnabend seinen 82. Geburtstag begeht, macht ihn zu einer akademischen Sternstunde.

Habermas kommentiert nicht die aktuelle Politik. Die Krise Europas ist ihm vielmehr Anlass, die rechtlich konstitutiven Elemente der Europäischen Union herauszuarbeiten, ihre Defizite zu benennen und einen Weg zu zeigen, der, in die demokratische Tradition Europas eingebettet, in die Zukunft weist. Man muss zwischen den Zeilen lesen, um Verweise auf die gegenwärtige Lage auszumachen. Wenn Habermas über das „Integrationsmedium staatsbürgerlicher Solidarität“ spricht, ahnt man, wie sehr ihm die populistische Stimmungsmache gegen Europas Süden Sorgen bereitet. Daran trägt der Zustand der Union Schuld. „Supranationale Vertragsregimes“ hätten die „nationalstaatlich etablierten Verfahren ausgetrocknet“. Habermas wendet sich energisch gegen die von Politikern verbreitete Behauptung, „dass die Transnationalisierung der Volkssouveränität ohne Ermäßigung der demokratischen Legitimation nicht möglich sei“. Das ist ein milder Ausdruck für Europas Demokratiedefizit.

Volkssouveränität: An diesem, in der Französischen Revolution erstmals praktisch hervorgetretenen und später in Gestalt der demokratischen Nationalstaaten auf Dauer gestellten Begriff hängt Habermas’ Argumentation. Dabei verkenne die „Skepsis gegen die demokratische Verrechtlichung politischer Herrschaft den fließenden Charakter eines im 19. Jahrhundert konstruierten Bewusstseins nationaler Identität“. Der Philosoph, viele Jahre lang als quasi vaterlandsloser Geselle geschmäht, zeigt sich als Verteidiger des Nationalstaates – freilich in dessen aufgeklärter Form. Durchaus sieht er im Fortbestehen der Staaten als konstituierendem Element der EU die Möglichkeit zum „Konflikt zwischen den Interessen der Bürger innerhalb des Nationalstaates und der Interessenverallgemeinerung in ihrer Rolle als Unionsbürger“ angelegt.

Daraus folgt zweierlei. Zum einen sei „die supranationale Ausdehnung der staatsbürgerlichen Solidarität ein Lernprozess, der sich nur in einem entsprechend erweiterten zivilgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang vollziehen könnte“. Da sind die Medien gefordert, über den nationalen Tellerrand zu schauen. Zum anderen aber müsse die „Union gewährleisten, was das Grundgesetz der Bundesrepublik die ,Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse’ nennt“. Doch „diese ,Einheitlichkeit’ bezieht sich nur auf die zulässige Variationsbreite sozialer Lebenslagen, die unter Gesichtspunkten der Verteilungsgerechtigkeit akzeptabel ist, nicht auf die Einebnung kultureller Unterschiede." Die Nationalstaaten sind geradezu die Hüter des „unvergleichlichen kulturellen Reichtums des Biotops ,Alteuropa’“.

Sie sind aber, dies vor allem, „bleibende Errungenschaften und lebendige Gestalt einer ,existierenden Gerechtigkeit’“. Das ist das einzige Wortzitat – von Hegel. Sie sind, so Habermas empathisch, „mehr als die Verkörperung bewahrenswerter nationaler Kulturen. Sie bürgen für ein Niveau von Gerechtigkeit und Freiheit, das die Bürger zu Recht erhalten sehen wollen“.

Der rauschende Beifall nach dem einstündigen Vortrag gibt zu denken: Wären solche Worte vor 1989 ebenso bejubelt worden, hätte Habermas sie überhaupt so formuliert? Immerhin schimmert die frühere, auf Kapitalismuskritik und nicht auf Völkerrecht gegründete Position des letzten Vertreters der einst tonangebenden „Frankfurter Schule“ durch, als er in der anschließenden Diskussion darauf insistiert, „verteilungspolitische Probleme“ zu lösen, sprich: ein Europa der sozialen Gerechtigkeit zu schaffen. Dass nur dafür die Milliardenhilfen für Europas Schuldnerstaaten gerechtfertigt wären, ist die politische Schlussfolgerung, die aus dieser Vorlesung zu ziehen wäre. Bernhard Schulz

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