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Kultur: Den Verschwundenen ein Gesicht geben

Taryn Simon fotografiert Entrechtete. Die Neue Nationalgalerie Berlin zeigt ihre Kunst als anthropologischen Atlas

Das also ist everybody’s darling: eine schlanke New Yorkerin, Mitte dreißig, verheiratet mit Jake Paltrow, dem Bruder der Schauspielerin Gwyneth Paltrow. Man weiß so viel über Taryn Simon, weil sich die Presse gerade überschlägt. Ihr Aussehen bewundert oder das Aufgebot an Prominenz anlässlich einer Vernissage in der Londoner Modern Tate. Und dann ist da noch der unbestechliche Fotografenblick, mit dem die Künstlerin in die düsteren Winkel der Erde blickt. Auf Totgesagte, lebenslang Gejagte oder gegen ihren Willen Exponierte.

„Kapitel X“ jener überbordenden Porträtsammlung, die Taryn Simon für ihre aktuelle Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Vitrinen arrangiert, erinnert daran, dass Letzteres vor nicht einmal hundert Jahren eine globale Selbstverständlichkeit war. Als Nachkomme eines philippinischen Stammes, dessen Mitglieder 1904 auf der Weltausstellung in St. Louis vorgeführt wurden, schaut Cabrera Antero nun in die Kamera. Frontal und konzentriert, wie alle Protagonisten, zu denen die Künstlerin in den vergangenen vier Jahren reiste. Nach China, Tansania, Brasilien. In Berlin erscheint Taryn Simon in flachen Schuhen und einem seltsam altmodischen Kleid; als müsste sie alle Aufmerksamkeit von ihrer Person ablenken und auf die Porträts fokussieren, die in der Tat nicht leicht zu lesen sind. Erst mit den Texttafeln, den assoziativen fotografischen Beigaben und minutiösen Namenslisten fügt sich „A Living Man Declared Dead and Other Chapters“ zu jenem anthropologischen Atlas, den Nationalgalerie-Direktor Udo Kittelmann mit der fotografischen Großtat eines August Sander vergleicht: ein visueller Kraftakt, der Ordnung in die unübersichtliche Welt zu bringen versucht.

Simon sortiert mithilfe der „Blutlinie“. Sie macht aus den scheinbar willkürlichen Arrangements von Kindern, Erwachsenen und alten Menschen familiäre Dynastien. Blutsverwandte – was in zahllosen Kulturen weit mehr bedeutet als ein jährliches Familientreffen. Man hält zusammen und wird schlimmstenfalls Opfer einer Blutrache. Der Bruder des Irakers Latif Yahia etwa wollte sich nicht ablichten lassen. Aus Angst, weil Latif lange dem Hussein-Clan als Doppelgänger dienen musste: Die Ähnlichkeit mit Uday Hussein war derart verblüffend, dass man ihn bis zu seiner Flucht nach Irland zum Double für gefährliche Situationen machte.

Die Künstlerin hat Latif, seine Mutter und die Kinder porträtiert. Für den Bruder ließ sie eine Lücke in der Ahnenreihe. Wie überall, wo sich die direkten Verwandten trotz aller Recherche für ihre 18 Geschichten nicht komplettieren ließen. Ein Kapitel handelt von jener Handvoll Kaninchen, die im 19. Jahrhundert in Australien ausgesetzt wurden und sich explosiv vermehren. Ein anderes schildert die Geschichte von Shivdutt Yadav, der wie seine beiden Brüder offiziell als verstorben gilt: Ein gieriger Verwandter hat die drei Inder für tot erklären lassen, um sich ihr Land anzueignen. Yadav streitet nun für die profane Wiederauferstehung – und Taryn Simon liefert den bildhaften Beweis seiner Existenz.

Mit solchen Projekten macht sich die US-Künstlerin seit Jahren einen Namen. Sie hat Gegenstände fotografiert, die man Einreisenden an den Grenzen der USA abgenommen hat. Gefährliches Gut oder eingebildete Gefahren? 2007 schuf Simon ihren „American Index of Hidden and Unfamiliar“ mit Bildern von radioaktiven Kapseln eines Atommüllagers oder der Kunstsammlung der CIA – Dinge, von deren Vorhandensein der Normalbürger weiß, ohne sie je zu Gesicht zu bekommen. Mit „The Innocents“ lieferte sie im Jahr 2003 Porträts von unschuldig zum Tode Verurteilten. Die Höchststrafe bekamen sie trotz lückenhafter Beweise, und langsam gewinnt man den Eindruck, dass diese Leerstellen für Taryn Simon mindestens so wichtig wie das Abgebildete sind.

Er sei sich nicht sicher, ob ihre Arbeit mehr zur Kunst oder Dokumentation neige, sagte Kittelmann zur Eröffnung der Ausstellung, die ab Donnerstag zu sehen ist. Jener unerklärbare Rest macht sie, genau wie das setting in der Neuen Nationalgalerie, zu einer artifiziellen Installation. Wer die Künstlerin darin erlebt hat, unendlich ernsthaft und enthusiastisch, weiß aber auch, das hier keinem hype gehuldigt wird. Mag der Glamour Simon noch so mögen. Neue Nationalgalerie, bis 1. Januar, Di-Mi/Fr 10-18, Do 10-22, Sa/So 11-18 Uhr.

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