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Kultur: Denken nach der Barbarei

Aus dem Steinbruch einer politischen Philosophin: Hannah Arendts Denktagebuch

Von Otto Kallscheuer

Drei Arten von Kommentatoren gebe es, schreibt Hannah Arendt im März 1955 in ihr „notebook“: Erstens die Alexandriner, die Kommentatoren, „die wirklich wissen wollen, was der Autor gemeint hat, ohne alles Interesse für die Welt“. Zweitens die „Politiker“, also die am politischen Raum Interessierten, „die die Tradition wieder herstellen wollen“. Gemeint ist der Horizont öffentlicher Belange, der nur als Überlieferung besteht; nur im politischen Streit und Engagement entsteht jenes öffentliche „Zwischen“, das Menschen zu einem Gemeinwesen verbinden kann. Der dritte Typ von Kommentatoren schließlich wolle sich „wie Heidegger in den neuen Raum des Vergangenen begeben und alles mit neuen Augen sehen“ – und natürlich sind nur das die „Denker“.

Nun war aber in den Lagern von Auschwitz und des Archipel GULag für Arendt nicht allein die Tradition des Politischen, sondern auch die Tradition der abendländischen Metaphysik an ein Ende gekommen. Ohne das in der neuzeitlichen Wissenschaft siegreiche Welt- und Menschenbild wäre der Terror totalitärer Herrschaftsformen im 20. Jahrhundert weder theoretisch vorstellbar noch technisch realisierbar gewesen.

Der Totalitarismus, zu diesem Ergebnis kommt Arendt in ihrer 1951 erstmals in den Vereinigten Staaten veröffentlichten Untersuchung zu den „Origins of Totalitarianism“, war nur möglich unter den Menschen in einer bereits atomisierten Gesellschaft, welche ihren common sense bereits verloren hatten. Auf diese vereinzelten Einzelnen wirkten die Weltanschauungen des Dialektischen Materialismus oder des völkischen Rassismus gerade ob der „wissenschaftlichen“ Zwangsläufigkeit ihrer „Bewegungsgesetze“. Und wie im Zeichen der Krise der europäischen Nationalstaaten totalitäre Bewegungen aus den atomisierten Massen entstehen, so reproduzieren die siegreichen totalitären Regimes bindungslose Vereinzelung, von Tätern wie von Opfern des Terrors.

Was der moderne Totalitarismus voraussetzt und (re-)produziert, heißt in Arendts Sprache Zerstörung von Pluralität: der Existenzweise von sich als unterschiedlich wahrnehmenden, (an-)erkennenden Menschen in ihrer Vielfalt. Denn nur in ihrer Pluralität haben die Menschen eine gemeinsame Welt, und nur im „Zwischen“ pluraler Kommunikation ist politisches Handeln möglich. Arendt beginnt ihr Denktagebuch im Juni 1950, nach Beendigung der ersten (englischen) Fassung ihres Totalitarismusbuches. Der weitaus größte Teil ihrer Notizen stammt aus den Jahren bis 1955: dem Erscheinungsjahr der deutschen, von Arendt „rückübersetzten“ Ausgabe von „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ mit einem erweiterten Schlußteil zur Herrschaft des Terrors in den Vernichtungslagern.

Das Sinnlose verstehen

Wenn aber die Zerstörung der menschlichen Pluralität durch das eiserne Band des Terrors ein Regime hat entstehen lassen, „wo jede Handlung und menschliche Regung prinzipiell sinnlos sind, wo mit anderen Worten Sinnlosigkeit direkt erzeugt wird", ist dann nicht der totalitäre Begriff des politischen Körpers undenkbar und unverstehbar? Was überhaupt heißt es, organisierte Sinnlosigkeit zu verstehen? An dieser Frage laboriert Arendt lange, und das Laboratorium sind diese Notizbücher. Ausgehend vom Totalitarismus als „Grenzphänomen“ des Politischen – und im Kontrast zum darin aufscheinenden „radikal Bösen“ – nimmt die Denkerin die Gesamtheit (zwischen)menschlicher Weltverhältnisse in den Blick. Sie tut dies auf dem Wege einer Wiederlektüre der philosophischen Tradition, in der Auswahl und Kommentierung zahlloser Zitate vor allem Platons (und dann Augustins, Hegels, Rousseaus, Marxens und Nietzsches).

Erst allmählich befreit sie sich aus dem Engpass, in dem ihr Totalitarismusbuch mündete – in der Arbeit an ihren Vorlesungen in Princeton (zu Marx) und in Chicago, welche 1958 als „The Human Condition“ bzw. später in Deutschland als „Vita Activa“ erscheinen. In ihren Exzerpten und Notizen qualifiziert Arendt die politische, öffentliche Freiheit des authentisch, im „römischen“, neoklassisch republikanischen Sinne „eigentlichen“ politischen Handelns – und zwar ebenso im Kontrast zur marxistischen Arbeitsutopie wie zur amerikanischen „Arbeitsgesellschaft“.

Die Welt lieben

Dabei scheint auch noch eine ganz andere Unterscheidung von actio und passio auf, zwischen öffentlichem Handeln und (privater?) Leidenschaft, die Arendt in „The Human Condition“ nicht mehr weiterverfolgt hat, sollte doch der Titel dieses Buches ursprünglich „Amor mundi“ lauten. Die Welt als Denkerin zu lieben hieße ja, die Gesamtheit der pluralen Beziehungen zwischen Menschen – in denen sich (phänomenologisch) „Welt“ erst konstituiert – bewusst wahrnehmen zu können: Aber im Hauptwerk bleibt die Welt der unpolitischen Passionen ebenso ausgeklammert wie das „Leben des Geistes“, dem sich Arendts unvollendetes Spätwerk zuwandte: Denken – Wollen – Urteilen.

Aber welche Art von Kommentaren finden wir nun in den 28 Ringheften? Für Martin Heidegger taugten nur das Deutsche und das (Alt-)Griechische als Sprachen des Denkens, Andenkens, Anwesens von Sein - und seine Schülerin dachte deutsch, auch wenn sie längst Englisch schrieb und amerikanisch politisierte. Nach und trotz und wegen der deutschen Barbarei, der sie selbst gen Westen entkommen war, bleibt für Hannah Arendt die Muttersprache auch „Wohnsitz“ des Denkens: als einsame Zwiesprache mit dem Denken von Platon, Nietzsche oder Heidegger. Der Ausdruck „Denktagebuch“ ist für diese Cahiers nur mündlich verbürgt und beansprucht die dritte der eingangs genannten Weise des Kommentierens. Aber wir finden in diesen Heften alle drei Reflexionsformen: Fragmente der Tradition der abendländischen Philosophiegeschichte und des politischen Denkens werden immer wieder gegeneinander gehalten, eingeordnet zerlegt und widerlegt. Freilich geschieht dies nicht „alexandrinisch“. Arendt lässt Zitate liegen, bis sie drei, vier Wochen, zehn oder zwanzig Eintragungen später zum Anlass eines „freihändigen“ Gedankens werden.

Was Platon oder Marx „wirklich gemeint“ haben, fällt nicht damit zusammen, was ihre Lehren im Traditionszusammenhang der abendländischen Metaphysik und Politik bedeuten. Auch das Zitat eines von der Denkerin verworfenen Autors mag ihr da eine neue Richtung weisen. Arendt exzerpiert wieder und wieder, um die Probe auf einige, immer wiederkehrende Grundfragen zu machen, wenn sie Grundbegriffe ihres Nachdenkens darüber, was Menschen eigentlich tun, die gemeinschaftlich die Welt bewohnen, immer wieder wie eine Sonde in den Strom der philosophischen Geistesgeschichte hängt. Nicht genug zu loben ist die präzise Arbeit der Kommentierung und Kontextualisierung durch die Herausgeberinnen: Gewiss wird dieses Denktagebuch – neben dem Briefwechsel mit Karl Jaspers – das wichtigste Arbeitsinstrument künftiger Forschungen zum Werke Arendts sein.

Da gibt es mitunter eine Irritation, eine Illumination, wenn Arendt eine alte Notiz wieder aufgreift oder eine ihrer apodiktisch daherkommenden Festlegungen neu fasst: (Denken ist ...; Politik ist ...; Liebe ist ...) oder an ihren idealtypischen Einteilungen bastelt (Arbeit/Handeln; Erkennen/Denken; Gewalt/Macht). Oder die Denksplitter erhellen einander über Jahrhunderte im Kontrast: Da hilft dann Platon, der „den besten Staat am Bild des einzelnen Menschen konstruiert, wo sich alle Bürger verhalten, als seien sie EIN Mensch“, dabei, Rousseaus „Quadratur des Cirkels“ zu verstehen: das „Grundproblem aller politischen Philosophie des Abendlandes, wie man aus einer Pluralität eine Singularität machen könne“.

Arendt wird diese Gegnerschaft zur demokratischen Ideologie später in „On Revolution“ (1963), ihrem Buch über den Unterschied zwischen französischer und amerikanischer Revolution, ausarbeiten. Und die Kehre zur dritten Form des Schreibens und „reinen“ Denkens: nicht über das Seiende (die Dinge, Objekte und Kausalzusammenhänge der Wirklichkeit) zu denken, sondern das Sein „transitiv“ (an-)zudenken, das Denken vom Sein „anwesen“ zu lassen? Sie glückt Arendt nur in wenigen Passagen, Inseln und Leuchttürmen in der Zitatencollage. Denn zunächst ist sie viel zu sehr auf der Suche nach Typologien, wie wir sie aus „Vita activa“ kennen. Das (Zusammen-)Leben und (Mit-)Handeln der Menschen zu denken, statt es gleich zu typisieren, zu definieren, normativ zu klassifizieren, gelingt ihr nur in wenigen Passagen von (im philosophischen Sinne) phänomenologischer Dichte.

Versöhnung mit dem Bösen

Vor allem bei der Explikation der Grammatik möglicher Versöhnung post factum mit dem Bösen, welches – so denkt sie – keine Frage der „Schuld“ sei. Arendts Suche ist hier noch offener als in ihren Werken; vor allem Nietzsche wird ihr wichtig als anti-theologischer und anti-moralischer Denker des Bösen. Arendts philosophische Risiken und Provokationen sind in ihren Denknotizen noch nicht kalkuliert. Dies gilt vornehmlich für ihr Projekt einer nicht-moralischen Philosophie des „radikal Bösen“. Ein Buch, das Arendt nie geschrieben hat – oder doch? Von 1959 bis 1961, vor ihrer Reportage „Eichmann in Jerusalem“ (1963) und der anschließenden Kontroverse, versiegt jedenfalls das Denktagebuch fast ganz.

Hannah Arendt: Denktagebuch 1950 - 1973. Herausgegeben von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann. Piper Verlag, München 2002. Zwei Bände, zusammen 1232 Seiten., 99 €. (Ab 1.1.03 118 €)

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