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Depressionen: Ein nackter Wilder in der Höhle

Ist das ''Hoffnungszentrum'' im Kern getroffen, wird das Weiterleben zu einer permanenten Folter: Wie man im Lauf einer Depression an seinem eigenen Gewicht verendet.

Drei Jahre hatte ihn eine schwere Depression im Griff. Doch der 1948 geborene Schweizer Adrian Naef fand in der Klinik nicht nur einen Weg aus dem Seelendunkel. In seinem Buch „Nachtgängers Logik“ (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 256 Seiten, 24,90 €) legt er von seiner Erkrankung mit einem seltenen Maß an literarischer Verdichtungskraft und philosophischem Scharfsinn Zeugnis ab. In kurzen Kapiteln treibt Naef, den die Depression mit Anfang fünfzig von einer Minute auf die andere überfiel, essayistische Stollen in das finstere Massiv, das ihn gefangen hielt. Sein „Journal einer Odyssee“ ist das Buch eines unfreiwilligen Abenteurers, der in der Depression eine Lehrmeisterin gefunden hat; die grimmig-sarkastische Verstehensanstrengung eines unerwarteten Rückkehrers; eine umgekehrte Everest-Besteigung, hinab in die Katakomben einer untoten Seele. Im Folgenden mit freundlicher Genehmigung des Verlags einige kurze Passagen, in denen sich vielleicht auch etwas von dem spiegelt, was Robert Enke durchlitt. dotz

Physiognomisch gesehen, hätte mir eine Depression gar nicht passieren dürfen. Als ich mich kurz nach den ersten Attacken kaum mehr bewegen konnte, gratulierten mir noch uninformierte Bekannte zu meinem guten Aussehen. Meine Lockerheit – oberflächlich vollkommen – wirkte offenbar noch lange während der Depression. Ich war im ersten Dreivierteljahr meiner Depression wohl der kerngesundeste Kranke, den die Kliniken seit langem gesehen hatten, was dazu führte, dass mich das Pflegeteam lieber zu Konsultationen hinzuzog als mich selbst zu pflegen. So kniete ich am Morgen in der Isolierzelle einer hyperventilierenden Patientin, wo ich noch nachts nichts mehr fürchtete, als dort zu landen. Verkehrter konnte die Welt nicht sein! Mein Aussehen änderte sich dann allerdings über die Jahre zur vollständigen Unkenntlichkeit. Meine Anpassungsfähigkeit war auch darin perfekt. Hätte man mich in den drei Jahren statt in die Kliniken in Zoohandlungen gesteckt, ich wäre wohl zu einem Hamster mutiert. Meine überdurchschnittliche, aber doch allgemeinmenschliche Anpassungsfähigkeit machte mich in dieser Umgebung allmählich zum grauen, gesichtslosen Irren.

Für den Kämpfer gibt es nichts Schlimmeres als den Kontrollverlust, die Unmöglichkeit und Unfähigkeit, etwas zu entscheiden und zu tun. Das Boot läuft aus dem Ruder, die Segel fliegen davon, der Mast ist geknickt, und jede siebte Welle kann das Boot zum Kentern bringen. Der Kämpfer klammert sich an den Rest des Masts und ist dazu verdammt, seinen Untergang zu erwarten, von dem er als Realist mit absoluter Sicherheit ausgeht. Wozu die dämliche Schwimmweste anziehen, sie wird die Agonie nur verlängern. Gescheitert, aus.

Das Schlimmste für den Kämpfer ist das Versagen, und die Niederlage ist dieses Mal total. Mit einem solchen Gegner hat er nicht gerechnet, ja sich im Traum nicht vorstellen können, dass es einen solchen Gegner überhaupt gibt. Man hatte bisher mit seinesgleichen zu tun. Die Schlachtordnung wurde respektiert. Aber das? An alles denken die Kämpfer, nur nicht ans Wetter. Gegen Schlamm und Schnee hilft kein Gebrüll. Dieser Gegner ist feige, er weicht zurück, ist für immer da, bis der Held an seinem eigenen Gewicht verendet. Durch diesen Gegner fällt man nicht, man wird allmählich vermisst. Dieser Gegner ist von einem anderen Planeten, er kämpft mit unbekannten Waffen. Hier kämpft ein Blinder gegen einen Sehenden, der Ausgang ist auszurechnen. Oder was zwangsläufig eintreten muss: Der Kämpfer, der inneren Routine weiter folgend, beginnt sich selbst zu bekämpfen, wenn sich der äußere Gegner bedeckt. Hauptsache Kampf. Um Himmels Willen Staub in der Luft, auf dass er nicht sehe.

Je tiefer man sich ins Loch manövriert, desto mehr reduziert sich die Anzahl an Gesichtern, die wir am Tage nach außen hin zeigen. Übrig bleibt der aufs Schamloseste reduzierte, ureigenste Wesenskern unter einer mit größter Anstrengung gerade noch aufrechterhaltenen gesellschaftskompatiblen Hülle. Aber da diese Hülle vielleicht noch einmal pro Tag, unter der Tür für den Briefträger, der zum dritten Mal den eingeschriebenen Brief anzubringen versucht, zum Einsatz kommt, liegt da eigentlich die ganze Zeit ein nackter Wilder in seiner Höhle und vegetiert durch den Winter. Für die verschiedenen Gesichter, die wir bei Tage den verschiedenen Bekannten und Freunden zeigen, gibt es einfach keine Energie mehr. Da schaut wieder der grimmige, verstrubbelte Wilde aus dem Spiegel, der gestern schon da war und sich je länger, desto weniger verändert. Drei Jahre lang war weder der Ansatz eines Lächelns auszumachen noch ein Ausdruck von Wut oder Liebe, geschweige denn, dass von den überlebenssichernden charakterlichen Verstellungen mehr als das Allernötigste übrig geblieben war. Wer nichts mehr zu gewinnen hat, braucht sich auch nicht mehr zu verstellen; wozu sein Pokergesicht beibehalten, wenn man vom Tisch ist. Was bleibt in der reizarmen Höhle, ist das Gesicht des Grimmigen. Nichts zu lachen; entweder reicht die angegessene Schicht, bis es taut, oder das Aushalten geht in Agonie über. Keine Bildung, keine Kultur, keine Religion ist stark genug, den Abfall ins Vegetative zu stoppen, weder der Umstand, dass es um die Ecke Kaviar zu kaufen gäbe, noch die nach wie vor funktionierende Zentralheizung.

Ist das „Hoffnungszentrum“ im Kern getroffen, wird das Weiterleben zu einer permanenten Folter. Nicht umsonst ist Verbannung, Ächtung oder lebenslange Haft ohne Aussicht auf Begnadigung, nicht umsonst ist ewige Verdammung die schlimmste aller denkbaren Strafen und wird von den Betroffenen lieber vorzeitig durch Suizid beendet. Das Schlimmstmögliche ist aber, wenn dem Häftling oder Patienten selbst diese Hoffnung noch genommen wird. Videobeobachtung rund um die Uhr, nicht einmal Hosenträger oder Schnürsenkel, um sich aufzuhängen, und das endlose Frühlinge, Sommer und Winter lang in einer schalldichten Zelle und danach die Verdammnis in alle Ewigkeit.

Wer nachts einmal allein im Wald übernachtet hat, weiß, wie schnell man trotz Aufklärung und Vernunft in einem Urfilm landet, der zu wildesten Schlüssen verführt. Jedes Geräusch wird zum Anzeichen für Gefahr, man fühlt sich pausenlos umzingelt und beobachtet; von Schlaf keine Spur, und ohne Schlaf wird''s noch schlimmer. Die Nachtlogik war jedoch lebensrettend über Millionen Jahre, sie ist uns in jede Zelle eingebrannt – nur hat sie zu verschwinden, wenn es tagt. Das Gefährliche am dauernden Fragen des Nachts ist aber, dass sich die Endlosschleifen allmählich ins Gehirn eingraben, wie das Hin- und Herlaufen auf dem Teppich allmählich seine Zeichen setzt. Denken wird, wie Kaugummikauen, zu einer Spannungsabfuhr und mit dem Gehen zusammen zu einem Müdmacher und Stundenherumbringer. Wie jede Gewohnheit verfestigt sich das Nachtdenken und will gar nicht wahrhaben, dass der Morgen schon dämmert. Nach drei Jahren Nachtdenken wird dieses Denken zur Vernunft schlechthin und jede schüchterne Umstellung auf den Tagmodus zum Denkfehler. Um aus dem Loch zu kommen, wird es darum nötig sein, gegen seine eigene Vernunft zu handeln.

Die frohe Botschaft heißt: Ein Teil des Gehirns kann einem anderen beim Denken zuhören. Offenbar herrscht eine Hierarchie in der Zentrale. Es gibt eine Instanz, die bei Licht an Kraft gewinnt und das zwanghafte Denken in seine Schranken weisen kann. Denken ist bloß eine Methode, die Strukturen folgt, die von klein auf eingeübt werden, wie das Dezimalsystem. Im Licht gewinnt das unabänderlich positive, lichthafte Wesen unserer Seele an Kraft und kann selbst über Jahre antrainiertes Denken ändern. Es gibt keinen Dunkelheitsschalter. Es gibt nur Licht, es gibt nur einen Gott, heißt die Botschaft.

Adrian Naef

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