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Kultur: Der albanische Freund

Schauspieler, Popstar, Nationalheld: Alexander Moissi im Land der Skipetaren. Eine Zeitreise

Wo liegt Albanien? Bei Shakespeare findet man es gleich an der nächsten Ecke – oder an fernen Küsten. Im „King Lear“ ist der Herzog von Albanien offenbar ein Engländer, in „Was ihr wollt“ landen die Schiffbrüchigen in Illyrien, wie man das Land zur Zeit der Römer nannte. Bis heute hat sich an dieser geografischen Exotik oder Ignoranz wenig geändert. Albanien, das 3, 5 Millionen Einwohner hat, so viel wie Berlin, gilt als Balkan des Balkan. Man kennt die Bilder von überfüllten Flüchtlingsbooten auf dem Weg nach Italien. Man denkt an Blutrache, Korruption, organisiertes Verbrechen und an die 40-jährige, klaustrophile Diktatur Enver Hodschas, der 1985 starb, nachdem er sich mit der gesamten kommunistischen Welt überworfen hatte. Hodscha, dieser mediterrane Mao-Stalin-Klon, ließ die Albaner „Biografien“ schreiben, staatsbürgerliche Führungzeugnisse, die bei den Behörden regelmäßig aktualisiert werden mussten. Und er überzog seine winzige südeuropäische Enklave mit hunderttausenden pilzförmiger Mini-Bunker, die wie aufgelassene Hünengräber noch heute überall herumstehen. Shakespeare wurde übrigens erst im 20. Jahrhundert ins Albanische übersetzt.

Tirana, im Winter 2002. Die Uhr wird nicht umgestellt, es gilt die mitteleuropäische Zeit. Eine Zeitverschiebung spürt man trotzdem. Deutschland in der Depression, Kanzlerkrise, Rentenkrise, Steuererhöhungen – über so weltnewegende Sachen kann man hier nicht ernsthaft nachdenken. Nicht, dass fremde Probleme, Armut gar, eine beruhigende Wirkung hätten. Im Gegenteil: Die westliche Nabelschau ist aus der Distanz noch bedrückender. Hier, wo bald 500 Jahre lang, bis 1912, die Türken herrschten, sind wir tatsächlich mitten in Europa, wenn auch politisch-ökonomisch an seinem äußersten Rand. Schaf- und Ziegenherden auf der Straße vom Flughafen in die Hauptstadt, das Verkehrsbild im postsozialistischen Turbokapitalismus wird von qualmenden alten Opeles und Mercedes bestimmt. Statussymbole. Das Image der deutschen Wirtschaftsmacht scheint intakt.

Die Akademie der Künste Tirana und die Soros-Foundation haben mich eingeladen. Ich soll ich über Alexander Moissi sprechen. Meine Biografie des einst berühmtesten europäischen Schauspielers (1879–1935) wird ins Albanische übersetzt – und der Autor als Freund des albanischen Volkes begrüßt. So einfach, so unglaublich.

Moissi und Albanien, das ist eine europäische Kurz-Geschichte. Die Familie des Künstlers stammte väterlicherseits aus Albanien, Moissi selbst verbrachte dort nur einige Kindheitsjahre in der adriatischen Hafenstadt Durres. Gleichwohl betrachten die Albaner den Kosmopoliten Moissi, der bei Max Reinhardt in Berlin und Salzburg (er war der Ur-„Jedermann“) zum Weltstar wurde, als einen der Ihren. Moisiu (so die albanische Schreibweise) ist neben dem Krieger Skanderbeg aus dem 15. Jahrhundert und Mutter Teresa der albanische Nationalheld. 1961 wurde ihm posthum der Titel „Künstler des Volkes der Sozialistischen Volksrepublik Albanien“ verliehen. Er gehört zu einer VorVergangenheit, die für viele in die Zukunft weist. Die Schauspielerlegende als Brücke nach Europa, heraus aus der Isolation.

Kavaja, Alexander Moisiu-Oberschule. Im Lehrerzimmer hängt ein jugendliches Moissi-Portrait neben einer Moissi-Büste. Die Schüler haben für den ausländischen Besucher ein Programm vorbereitet: Stationen aus dem Leben des Schauspielers, patriotische Lieder, zwei Mädchen spielen eine Szene aus „Hamlet“, der Prinz war eine von Moissis Paraderollen. Plötzlich ergreift Lazer Filipi das Wort, ein 82-jähriger Schauspieler, als Lenin-Darsteller berühmt. Mit flammender Stimme rezitiert er in dieser ebenso harten wie melodischen Sprache einen Zeitungsartikel, den ich über Moissi geschrieben habe. Nachher sagen die Schulmädchen, sie würden auch gerne so wie die jungen Frauen sein, die sich allezeit in Moissi verliebt haben.

Steinbruch des Kapitalismus

Moissi wurde in den zwanziger Jahren wie ein Pop-Star verehrt. Er war zwei Mal verheiratet und hatte unzählige Affären. Und wieder spürt man diese Sehnsucht nach Europa, nach dem Westen, nach Amerika: Von Moissi lernen, heißt vielleicht leben lernen. Leben in Freiheit, leben ohne Bedrückung, Armut und Abschottung. Die Isolation hält weiter an, nicht mehr aus ideologischen, aber aus ökonomischen Gründen.

Durres, am Meer. Die Nachbarstädte Kavaja und Durres, dreißig Kilometer von Tirana entfernt, sind alte Konkurrenten. Das gilt für den Fußball ebenso wie für Moissi. Moissis Vater stammte aus Kavaja und lebte später in Durres, ein Kaufmann, der nach dem Verlust seiner Handelsschiffe zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Triest in seine Heimat zurückkehrte. In Triest, damals k. u. k.- Handels- und Kriegshafen, wurde sein Sohn Alexander geboren, die Dokumente sind eindeutig. Doch immer wieder ist in Albanien von Moissis „Geburtsort“ Durres die Rede; ein für das albanische Selbstbewusstsein nicht unbedeutendes Detail wie auch die Frage, ob Moissis Mutter Amalia – eine Italienerin – aus einer albanischen Auswandererfamilie stammte.

Durres, eine Zeitachse: Der Strand ist betoniert und zugebaut mit illegal errichteten Appartementblöcken und Hotels, ein Steinbruch des mafiosen Kapitalismus; etliches wird hier wieder abgerissen werden. In der zweiten Reihe ärmliche Siedlungen, Straßen mit Schlaglöchern, schließlich am Hang ein römisches Amphitheater, halb ausgegraben, halb mit Wohnhäusern überbaut, in den Katakomben verrotten byzantinische Mosaiken einer uralten Kirche. Es gibt in dieser Hafenstadt – gegenüber liegt Bari, Italien! – ein Moissi-Museum, im Kulturpalast steht eine überlebensgroße Statue des Mimen.

Der Bildhauer Kristaq Rama schuf den Marmor-Moissi. Er ist der Vater von Edi Rama, dem jungen Bürgermeister der Hauptstadt. Edi Rama, von der Unesco zum Bürgermeister des Jahres 2002 gewählt, ist selbst bildender Künstler. Er hat in Tirana reihenweise illegal errichtete Häuser abreißen lassen und die halbe Innenstadt bunt angemalt; Fassaden wie von Mondrian, die Gebäude-Kosmetik soll Optimismus ausstrahlen.

Wie begegnet man jemandem, der den Gast als ungebetenen Konkurrenten betrachten könnte? Bardhyl Kosova forscht seit Jahrzehnten über Moissi, er organisierte internationale Moissi-Kongresse und Wallfahrten zu Moissis Grab im Tessin und hat mehrere Bücher über unseren Helden geschrieben. Anfang der siebziger Jahre leitete er das Nationaltheater in Tirana. Er wurde aus der Hauptstadt verbannt, in ein abgelegenes Dorf, nachdem er Brechts „Arturo Ui“ auf die Bühne gebracht hatte. Wir diskutieren über Moissis Verhältnis zu Mussolini und Hitler. Goebbels habe Moissi gehasst und aus Deutschland vertrieben, sagt Kosova. Hitler jedoch habe nach Moissis Tod in Wien ein Beileidstelegramm geschickt. Wir unterhalten uns auf Englisch und Französisch, mit italienischen Brocken. „La verité est terrible“, sagt Kosova. Wie selbstverständlich stellt er mir sein Archiv zur Verfügung.

Albanien, eine Herzens-Bildungsreise. Das Auffälligste ist die vollkommene Abwesenheit von Zynismus in Gesprächen über Kultur. Und eine Gastfreundschaft wie in homerischen Epen. Wer das nie erlebt hat, mag darüber lächeln.

Tirana, Residenz des Staatspräsidenten. Alfred Moisiu wurde im Juni 2002 zum Präsidenten der Republik Albanien gewählt, von allen im Parlament vertretenen Parteien; eine historische Einigung. Der 74-jährige General a. D., zu Hodschas Zeiten stellvertretender Verteidigungsminister und für die Bunker-Schwemme verantwortlich, ist der Sohn eines berühmten Partisanenführers des Zweiten Weltkriegs. Mit 14 kämpfte er gegen die Faschisten. Sein Großvater war der Onkel von Alexander Moissi. Moissi und Partisan: die ideale albanische Kombination. Ich bekomme eine einstündige Audienz. Der Präsident erzählt Geschichten aus dem Familienfundus: wie Alexander schon früh durch seine schöne Stimme aufgefallen ist und dass die Moisius viele Intellektuelle hervorgebracht haben. Präsident Moisiu zeigt mir ein Foto mit US-Präsident George W. Bush im Weißen Haus in Washington. Mitte der neunziger Jahre gründete er die „Albanian North Atlantic Association“. Er interessiert sich für Moissis Gastspielreise nach New York Ende der zwanziger Jahre – und für den Soldaten Moissi. 1914, als er schon ein Star war, nahm er in Berlin die deutsche Staatsangehörigeit an, um für Kaiser Wilhelm in den Krieg zu ziehen. Zum Abschied schenkt mir Präsident Moisiu eine mit Silber beschlagene Pistole.

Tirana, Akademie der Künste. In Albanien über Moissi sprechen, heißt für mich: zuhören. Diesen nicht mehr jungen Männern, die so viel mitgemacht haben. Die ihre Geschichten erzählen, so wie Moissis Leben auch war: ein fantastischer Roman.

Prof. Adriatik Kallulli wurde auf hoher See geboren, als sein Vater in Bari eine Stellung hatte. Daher der Vorname. Ein Kind der Wellen, „aber die Schwierigkeiten begannen an Land“: Adriatiks Bildung ist profund, wie sein Humor. Er kann Poe und Shelley und Goethe im Original rezitieren. Er hat ein seltenes, kaum heilbares Augenleiden. „Ich sehe alles doppelt“, sagt Adriatik, „nur nicht bei Frauen und beim Geld“. In den achtziger Jahren wurde er in der Charité behandelt, die DDR-Ärzte verschafften ihm Linderung. So viele schöne, erschütternde Geschichten erzählt er in seinem bühnenreifen Englisch, das er sich einst mit einem russisch-englischen Wörterbuch selbst beigebracht hat. Geschichten, die Literatur sind: Sein Zimmergenosse in der Charité war ein Wissenschaftler, der in einem komaähnlichen Zustand lag, wochenlang. Adriatik sprach den Mann immer wieder an, ohne je eine Antwort zu bekommen. Als der Patient wieder bei Bewusstsein war, schenkte seine Familie dem albanischen Freund aus Dankbarkeit ein Auto. In der DDR! Adriatik wollte den Wagen der albanischen Botschaft in Ost-Berlin übergeben, denn „die hatten nur klapprige alte Autos“. Er wurde scharf verwarnt: „Genosse Adriatik, bist du hier, um deine Augen zu verbessern oder um deine Biografie zu verschlechtern?“

Ein Toter im Diesseits

Die Akademie ist von klassischem Zuschnitt, eine Kunsthochschule mit 300 Studenten. Das Gebäude atmet noch eine leicht morbide sozialistische Aura. Im ehemaligen Heizkeller haben Geschäftsleute eine Millionen Dollar teure Diskothek eingebaut, über drei Etagen. Hier lässt sich die allgegenwärtige Korruption mit Händen greifen. Das Alte steht auf neureichem Underground.

Der lebende Leichnam. Wien, März 1935. Auf dem Totenbett erreichte Alexander Moissi ein Telegramm aus Rom, in dem ihm die italienische Staatsbürgerschaft angeboten wurde. Auch die Albaner – damals regierte der Operettenkönig Zog in Tirana – stellten ihm einen Pass in Aussicht, mit der zweifelhaften Ehre, dass Moissi Hofschauspieler bei Zog würde. Die Frage der nationalen Zugehörigkeit wurde nicht mehr entschieden. Moissi starb darüber.

„Der lebende Leichnam“ in dem Stück von Tolstoj war Moissis größte Rolle; die Geschichte eines fingierten Selbstmords. Er hat sie auf seinen Tourneen wohl über 1500 Mal gespielt. Als hätte er’s geahnt: All die Jahre und Jahrzehnte wurden sein Name und sein Ruhm als sehr reale Fiktion unter der albanischen Glasglocke aufbewahrt. Der Weltbürger fand posthum eine Heimat im absurdesten und verschlossensten aller sozialistischen Staaten. Jetzt ist er wieder aufgetaucht, als Symbolfigur für ein modernes, weltoffenes Albanien. So begegnen einem der Schauspieler und sein Mythos im Land der Skipetaren – ein Toter, der noch eine Mission im Diesseits hat.

Rüdiger Schaper

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