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Kultur: Der Berg schweigt

„Sturz ins Leere“: Kevin Macdonald verfilmt eine wahre Tragödie in den Anden

Knirschend schraubt sich ein Gewinde durch blankes Eis. Am Geräusch erkennt der Kletterer, ob der Haken halten wird. Die andere Hand greift nach hinten, dorthin, wo seine Karabiner, die um seinen Körper schlingern, in der Kälte klirren. Sein Atem lässt die Anstrengung erkennen, die es kostet, das Gewicht auf die Vorderzacken seiner Steigeisen zu verlagern. Die ragen nur wenige Millimeter ins Eis. Als die Halterung zuschnappt, ruft er erleichtert seinem Kompagnon zu. Und man sieht, wie das Seil über eine endlose weiße Fläche in die Tiefe führt. Dort unten ist der Freund nur ein kleiner Punkt. Die Kamera sucht das Weite und öffnet den Blick auf ein gewaltiges Panorama und Göttertheater, in dem die beiden Bergsteiger so einsam und verlassen sind, wie man es nur sein kann.

Es gibt nicht viele Bergsteiger- Filme, und noch weniger gibt es, die aus Bergen mehr als eine bizarre Kulisse machen. Kevin Macdonalds „Sturz ins Leere“ ist da ein Glücksfall, vielleicht nach Werner Herzogs „Schrei aus Stein“ (1991) der erste gelungene Versuch, die Faszination der Höhe, die Langsamkeit der Fortbewegung und das Ausgesetztsein mit einer guten Geschichte zu verbinden, bei der es nicht nur um Extreme geht. Im Mittelpunkt stehen Joe Simpson und Simon Yates, zwei Engländer, die als Erste die 1400 Meter hohe Westwand des Siula Grande in den Anden durchsteigen wollen. Die beiden haben schon etliche Touren gemeinsam gemacht, sie kennen die Kniffe, mit denen man in einer glatten, senkrechten Welt nach oben kommt. Sie wissen, wie man sich Schneehöhlen gräbt, um in dieser Landschaft zu überleben. Sie wissen auch, wie viel Flüssigkeit der Körper benötigt und wie viele Gaskartuschen sie mitnehmen müssen. Was sie nicht wissen: ob einer von beiden das Seil durchschneiden darf, um sein eigenes Leben zu retten.

Das ist tatsächlich geschehen. Der renommierte Dokumentarfilmer Macdonald („Ein Tag im September“) inszeniert das Drama an realen Schauplätzen nach und streut Interview-Passagen mit den Protagonisten ein. Wobei die Tatsache, dass die Überlebenden ungerührt berichten, noch lange nicht heißt, dass sie davongekommen sind.

Das Unheil beginnt mit „einem scharfen, knackenden Geräusch“, mit dem Simpsons Eispickel aus dem Eis bricht. Beim Aufprall spürt er, wie sein Knöchel birst und der Unterschenkel sein Kniegelenk durchbohrt. Im aufkommenden Sturm seilt Yates den Verletzten über eine unbekannte Route ab. Schließlich rutscht dieser über einen Felsvorsprung, baumelt hilflos in der Leere und droht seinen Seilpartner aus der Wand zu ziehen. Da zückt der das Messer. Und Simpson stürzt aus dieser Welt. Nach 45 Metern durchschlägt er die Schneehülle des Gletschers und wird von einer Spalte verschluckt. Während Yates alleine ins Lager zurückkehrt und die Kleidung des für tot gehaltenen Partners nach Art der Hindus verbrennt, erlebt dieser Gottverlassene seine finstersten Stunden. Man muss nicht erst den „Herrn der Ringe“ gesehen haben, um die uns Erdenmenschen packende Furcht vor dem Berginneren zu begreifen. Sie nimmt auch bei Simpson panische Züge an. Um sich zu retten, wagt er dennoch das Ungeheuerliche: Er tastet sich noch tiefer in das Spaltengewirr hinein, noch weiter in die Dunkelheit – bis er einen Ausgang entdeckt.

Als Simpson die Geschichte später aufschreibt und als Buch veröffentlicht („Touching the Void“, 1988), löst sie einen Sturm der Entrüstung aus. Den Seilpartner abzuschneiden, ist eines der letzten alpinen Tabus. Die Tat zerstört das Ideal der Bergkameradschaft, mit der die Zunft ihren Ehrgeiz zu nobilitieren versucht.

Auch der Film hat nichts Heroisches. Kühl und distanziert schildert er, wie sich einer wieder ins Leben zurückschleppt. Aber das Unbehagen an dem moralischen Dilemma bleibt merkwürdig stumpf. Dass die Beteiligten beinahe stoisch den Vertrauensbruch aussparen, den auch der glückliche Ausgang nicht ungeschehen machen kann, gibt der Auseinandersetzung eine tragische Note. Der Schnitt sei eben nötig gewesen, reden sich die Bergsteiger ein und glauben, dass das Entrinnen ihnen Recht gibt. Als wüssten sie nicht, dass ihnen das Schicksal eine Aufgabe gestellt hat, die nach einer höheren Antwort verlangt.

Obwohl Simpson seinem Freund stets beisprang und das Buch zu seiner Verteidigung geschrieben haben will, klingen seine Beteuerungen im Kino nach Schadensbegrenzung. Man vergisst einfach nicht, wie Simpson nachts allein den Namen seines Freundes ruft – und keine Antwort erhält.

Cinemaxx Colosseum, Cinemaxx Potsdamer Platz, Rollberg, OV im Cinestar Sony-Center

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