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Kultur: Der bewegende Mann

Ruheloser Raumtänzer: Merce Cunningham gastiert mit seiner Company in Berlin

Von Sandra Luzina

Aus Zufall hat Merce Cunningham einmal Einstein gelesen. Dessen Satz: „Es gibt keine Fixpunkte im Raum." hat ihn spontan begeistert: „Ich dachte: Das ist perfekt für die Bühne. Wo immer du bist, ist das Zentrum, und ebenso dort, wo alle anderen sind. Außerdem ist das ein zutiefst buddhistischer Gedanke." Einstein auf der Bühne! Zen-Philosophie im Tanz! Was Merce Cunningham in den 50er Jahren an Neuerungen einführte, kam einer Umwertung aller Werte gleich. Die Zentralperspeketive wurde abgeschafft, die Hierarchie der Bühnenakteure aufgehoben, Tanz, Musik, Bühnenbild galten als autonom. Mit Cunningham begann eine neue Zeitrechung. Die Liste der Komponisten und bildenden Künstler, die mit ihm zusammengearbeit haben, liest sich wie ein Who’s who moderner amerikanischer Kunst.

Der große Beweger, der so viele neue Tendenzen mit angestoßen hat, ist heute so etwas wie der Übervater des zeitgenössischen Tanzes. Dem Internationalen Tanzfest Berlin beschert der Altmeister nun einen ersten Höhepunkt. Seine neu fomierte und verjüngte Company gastiert in der Staatsoper. Aus Anlass des 50. Geburtstages der Merce Cunningham Dance Company wurden zwei Programme zusammengestellt, die einen Überblick über verschiedene Schaffensperioden des Choreografen ermöglichen.

Merce Cunningham ist jetzt 83 Jahre alt, sein Körper ist gebrechlich geworden. Doch er bleibt ein Mann mit Aura. Ein wacher Geist - und ein Meister der Lakonie. Ein philosophische Heiterheit spricht aus seinen Worten. Er doziert nicht, sondern erzählt lieber kleine Anedokten, und auch tiefe Erkenntnissse formuliert er als einfache Wahrheiten. Darin ähnelt er wohl John Cage. Mit dem Komponisten verband ihn eine lebenslange Freundsschaft. „John war ein sehr origineller Geist. Er hat unser Denken über das, was du siehst, was du hörst, was du tust, erweitert. Dieses neue Denken drückte sich in seiner Musik aus und in seinen visuellen Arbeiten. Und auch darin, wie er nach Pilzen suchte. Wenn er einen wunderbaren Pilz fand, fragte er sich: Warum?" Das Pilz-Gleichnis beschreibt perfekt Cunninghams Aufassung von kreativem Prozess. Den Geist zu öffnen und dabei auch einmal das Undenkbare anzuvisieren- das war immer seine Devise. Schon früh begann er deshalb mit Zufallsverfahren zu experimentieren.

Gern erinnert Cunningham sich an seine Anfänge zurück. In den 50ern fand er in John Cage und in den damals unbekannten Malern Robert Rauschenberg und Jasper Johns gleichgesinnte Geister. „Wie Robert Rauschenberg es einmal formuliert hat: Wir teilten unsere Armut und unsere Ideale. Ich habe es sehr genossen, mit Komponisten und bildenden Künstlern zusammen zu sein, die meisten Tänzer hielten meine Ansichten über den Tanz für total unverständlich." Einige wenige kamen dann aber doch, um Unterricht zu nehmen - und ihn eventuell auch zu bezahlen. Cunninghams Auffassung vom Tanz als reiner Bewegung eröffnete ein neues Feld an Aktivität. Mit ihm wurde die Ausdrucksästhetik des modern dance überwunden.

Sechs Tänzer passten in den VW-Bus, mit dem sie damals herumfuhren, erinnert sich Cunningham. Robert Rauschenberg war der do-it-all-Techniker. Der sagte dann schon mal: „Merce, vielleicht finde ich etwas, was wir auf die Bühne stellen können." Absprachen gab es so gut wie keine. Wenn das Objekt dann dastand, habe er eben herausfinden müssen, wie die Tänzer damit umgehen können. Einige der Arbeiten, zu denen Rauschenberg die Ausstattung beigetragen hat, gelten längst als Schlüsselwerke. Cunningham amüsiert sich: „Eine Kritikerin empörte sich einmal über ein Rauschenberg-Objekt mit den Worten: ,Ich weiß nicht, was es bedeuten soll.’ Ich antwortete nur: ,Genau!’ "

Geistige Offenheit und zugleich eine hohe Präzision - an diesen beiden Prinzipien hält Cunningham bis heute fest. „Meine Arbeiten sind nicht einfach, aber sie sind sehr klar." Und er erzählt, wie konsterniert er oft ist, wenn er jungen Tänzer zusieht: Alle absolvieren eine Phrase auf dieselbe Weise! Erkennen sie denn nicht, dass man eine Bewegung immer auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten kann? Das verändert nicht notwendigerweise die Bewegung selbst, aber die Wahrnehmung von Bewegung ."

„Open your mind." Man kann immer auch anders denken, anders sehen. Formuliert der Meister hiermit nicht nur seine künstlerische Überzeugung, sondern eine Lebensphilosophie? Cunningham lacht: „Diese Art zu denken gefällt mir. Ich versuche es immer und überall anzuwenden. Ich treffe nicht gern Entscheidungen. Also werfe ich eine Münze. Wenn du akzeptierst, was herauskommt, ist das immer eine große Erleichterung. Vielleicht siehst du dich mit etwas völlig Unbekanntem konfrontiert, aber das bietet dir die Chance, Neues herauszufinden."

Technologischen Innovationen stand Cunningham immer aufgeschlossen gegenüber. Die Befürchtung, dass sich mit den virtuellen Tänzen ein neues Ideal einschleicht, dem die wirklichen Akteure hinterherlaufen müssen, kann er rasch zerstreuen. „Wenn meine Tänzer die computergenerierten Bewegungen einstudieren, findet eine Transformation statt, die Bewegung wird ,human’. Es geht mir also nicht um die Perfektionierung der Bewegung, sondern um eine zunehmende Komplexität in meinen Werken." Von einer Rückkehr zum Klassischen, wie einige Kritiker sie in seinen letzten Werken ausgemacht haben, will Cunningham nichts wissen. „Ich habe nur etwas hinzugefügt. Denn ich bin der Auffassung, dass man jede Bewegung verwenden kann." Auch wenn er mittlerweile mit der Maus tanzt, gilt immer noch: Cunninghams Stücke handeln von nichts anderem als der Bewegung. Oder wie Cunningham es mit schöner Ironie auf den Punkt bringt: „What you see is what you get."

Noch einmal heute, 20 Uhr, Staatsoper

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