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"Der Blick aus dem Fenster": Hartmut Lange schickt seine Figuren in schwer fassbare Zwischenwelten in Berlin.

© imago/Wolf P. Prange

"Der Blick aus dem Fenster" von Hartmut Lange: Eine ganze Stadt aufreißen

„Der Blick aus dem Fenster“: In acht Erzählungen schickt der Berliner Schriftsteller Hartmut Lange sein Personal in schwer fassbare Zwischenwelten in Berlin.

Es ist das Unheimliche, das in zahlreichen Ausprägungen in den Alltag von Hartmut Langes Figuren einsickert, unmerklich zunächst, dann immer stärker und letztendlich in einem Maß, dass es wieder ignoriert werden kann, als sei nichts geschehen. Nur der Leser ahnt, dass sich Existentielles ereignet haben muss. Der 1937 geborene Berliner Schriftsteller ist ein Meister der Novelle, der kurzen Prosa, des verdichteten Schreibens. Seit über 30 Jahren erprobt er sich an dieser Form, und er hat darin eine Virtuosität erlangt, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur unerreicht sein dürfte.

Langes Figuren sind ergriffen von einer inneren Unruhe, von sanften Erschütterungen, die sich unter der Firnis eines gesicherten Auskommens zu Beben ausbreiten. Was sich vor diesen Menschen auftut, ist ein „metaphysisches Loch“, wie der Autor es einmal in Bezugnahme auf seinen Hausphilosophen Heidegger formuliert hat. In „Der Blick aus dem Fenster“ ist Lange noch eine Spur radikaler geworden, was in seinem Fall heißt: knapper. In acht kurzen Erzählungen schickt er sein Personal in schwer fassbare Zwischenwelten.

Der Anfang eines Wahns

Etwa in der Titelgeschichte: Giselher Reinhardt ist Ministerialbeamter, eine jener unauffälligen Figuren, die pünktlich zur Arbeit kommen und wieder gehen und über die kein Kollege viel weiß. In einem Bildband entdeckt Reinhardt ein Gemälde des Impressionisten Gustav Caillebotte: eine urbane Straßenszene, beobachtet aus einem höher gelegenen Fenster. Reinhardt hatte von nun an, so heißt es, „alles Recht zu behaupten, dass es von seinem Zimmer aus, wenn das Fenster geöffnet war, einen ähnlichen Ausblick gab“.

Das klingt selbstverständlich und ist doch merkwürdig: Wodurch soll dieses Recht begründet sein? Die Antwort gibt der Text selbst: Eine „flüchtige Verträumtheit“ hatte den Mann befallen; ein Zustand, der dafür sorgt, dass er nachts plötzlich Peitschenknallen und Kutschen- und Pferdegeräusche auf der Straße hört. Eine Überlagerung, die Lange vorantreibt, bis zu einem Punkt, in dem Giselher Reinhardt mit einem Glas Cognac in der Hand am Fenster steht und auf das Verstummen der Automobile wartet. Es könnte der Endpunkt eines Fantasiegebildes sein – oder der Anfang eines Wahns. Ganz nebenbei betreibt Lange eine subtile Historienarchäologie von Berlin. „Wer eine ganze Stadt aufreißt“, so denkt sich der Erzähler in „Die Begegnung“, „kann vor Überraschungen nicht sicher sein.“

Kurz darauf verfolgt er eine Frau, die scheinbar ziellos durch die Stadt streift. Erst als sie ihre eigene Gedenktafel passiert, erkennt er, dass es sich um Rahel Varnhagen handelt, die jüdische Schriftstellerin und Salonnière im 19. Jahrhundert. Untergründig sind alle Geschichten und Novellen Langes miteinander verbunden. Seine Texte haben ihre eigenen Gesetze. Sie ähneln denen, die wir kennen. Umso beunruhigender, wenn minimale Normabweichungen alles Vertraute auf den Kopf stellen.

Hartmut Lange: Der Blick aus dem Fenster. Erzählungen. Diogenes Verlag, Zürich 2015, 104 Seiten, 19 €.

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