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Kultur: Der Blick ins Nutella-Glas - Wie 30-Jährige die Liebe sehen

Aufregung vor der Premiere: Die "Bild"-Zeitung fragt sich, ob Kunst eigentlich alles dürfe. Und ob Schmuddelsex auf Staatskosten am Schauspiel Leipzig zu tolerieren sei.

Aufregung vor der Premiere: Die "Bild"-Zeitung fragt sich, ob Kunst eigentlich alles dürfe. Und ob Schmuddelsex auf Staatskosten am Schauspiel Leipzig zu tolerieren sei. Kamerateams werden in Gang gesetzt, Blöcke gezückt. Schließlich will ein Haufen junger Menschen in der Neuen Szene ein Stück mit dem Titel "Pussy Talk" herausbringen, noch dazu im lasziven Club-Ambiente. Berufsmäßige Voyeure wittern sofort Porno, Perversion und Päderasten - vielleicht, weil die Autoren Johan Vandenbroucke und Piet Arfeuille Belgier sind. Da sitzen die kurzatmigen Sensationssucher - doch sie haben sich gründlich getäuscht in der Generation der 30-Jährigen. Die verspürt einfach keine Lust mehr, provokative Gesten auf Knopfdruck zu liefern, nur um zu hören, dass ihre 68er-Eltern mehr Mumm in den Knochen hatten. Eine Generation, die Erwartungen erstmal gründlich enttäuschen muss. Auch theatralische. So bleiben Blut und Sperma, diese Gleitmittel des Gegenwartsdramas, in Leipzig ohne Bedeutung. Mit angenehmer Verwirrung nimmt man zur Kenntnis, dass hier das Prinzip Freundlichkeit regiert.

Zwei Männer und zwei Frauen schickt Regisseur Matthias von Hartz durch die deutsche Erstaufführung von "Pussy Talk - eine Abendunterhaltung". Der 31-Jährige bleibt dabei einem Konzept treu, das ihm bereits den Weg zu Bühnen und Festivals in Hamburg, Zürich und Wien ebnete: Hingeworfene Fragen mischen sich mit lockeren Antworten und einer Tonspur zu einer Art kollektivem Gedächtnis von Menschen, deren Jugend irgendwo in den achtziger Jahren lag - einer Zeit, von der man gerne behauptet, dass dort die Wurzel des sogenannten Werteverfalls liege. "Autoreverse 4.2", "Delete 3.1" und "lost & found" heißen seine vorangegangenen Inszenierungen, anzusiedeln irgendwo zwischen Spieleabend und Easy listening. Und von Hartz ist ein kluger Zeremonienmeister: Das Timing stimmt, die Musik rieselt wie Schnee, der nicht nass macht, aber schön glitzert. Die Sofas sind bequem. So fällt der ungetrübte Blick schnell auf vier Menschen in modischen Hemdchen, die sich an Mikrofonen aufgestellt haben. Auch sie sind ziemlich nüchtern.

Von der Liebe ist die Rede, und es hagelt Fragen: "Wie stellst du dir die Liebe vor?" "Ist deine Vorstellung von Liebe realisierbar?" "Geht es bei den One-night-stands nur um Sex?" Das kennt man. Und die Antworten auch. Sie sind ein mit leichter Hand geschüttelter Cocktail aus Zitaten, geborgten Geschichten und coolen Selbstinszenierungen. Von Hartz lässt die Texte abwechselnd sprechen, doch verhindert er, dass sich die Schauspieler (Liv-Juliane Barine, Frank Riede, Christoph Schlemmer und Eva-Maria Schneider-Reuter) klar als Individuen herausschälen. Die Notwendigkeit zur Abgrenzung - untereinander und gegen den Rest der Welt - wurde ihnen konsequent weginszeniert. Jetzt sind sie ein Kollektiv, zusammengehalten vom Rhythmus der Beats. Den vier Leipziger Clubbern spürt man eine Trauer darüber nicht an. Im Gegenteil: Man empfindet sich als ungemein humorvoll, hat immer Sekt im Kühlschrank, kann auch als Mann Schokopudding kochen und versteckt die verblichene Monchichi-Bettwäsche schnell vor abendlichen Dates. Lauter nette Sätze, die einlullen in einen Traum von Leichtigkeit und unverbrauchter Jugend.

Das ist wirklich sympathisch, und doch entsteht dabei mit jedem Wort der Eindruck einer schier unverwüstlich glänzenden Oberfläche von Klischees, die dem Zuschauer ein Bild teamfähiger Golf-Fahrer entgegen wirft. Eine Schar gut versicherter Internet-Designer und fröhlicher Aktienhändler, die sich in ihrer Freizeit am liebsten mit den Relikten ihrer Kindheit umgibt. Da stehen sie mit ihren hippen Turnschuhen und sehen aus wie vor der Zeit gealterte Kinder, die nur den einen Wunsch haben: mal wieder kräftig ins Nutella-Glas zu schauen. Ein verstörender Anblick, der an eine Sehnsucht erinnert, die über retrospektiven Schick hinaus reicht. Für Bruchteile von Sekunden stellt sich ein, was Thomas Ostermeier als das antreibende Gefühl seiner Generation beschrieben hat: diffuses Unbehagen. An diesem Punkt aber reißen Abendunterhaltungen naturgemäß meist abrupt ab. Auch in Leipzig. Doch "Pussy Talk" wirkt nach, weil von Hartz den beissenden Zynismus geschickt seinen älteren Regie-Kollegen überlässt. Und liefert nebenbei den Beweis, wie verbindlich Freundlichkeit mitunter sein kann.Nächste Vorstellung am 22. März, 20 Uhr.

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