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Kultur: Der Bürger als Bestie

Entfesselt: Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang“ am Berliner Gorki Theater

Sorgsam hat Gerhart Hauptmann den Helden seines Schauspiels „Vor Sonnenuntergang“ charakterisiert: „Matthias Clausen, Geheimer Kommerzienrat, soignierter Herr von siebzig Jahren.“ Alexander Lang, der ihn am Maxim Gorki Theater spielt, kümmert das wenig. Sein Geheimrat ist ein Mann von Welt und doch ein Kind. Lang zeigt einen Spieler, einen scharfen Beobachter, der wie in Trance in sich zusammensinken kann und dann schnell in die Wirklichkeit zurückkehrt. Dieser eben nicht „soignierte Herr“ kontrolliert sich und alle anderen unablässig, jede Sekunde, mit gespannter Aufmerksamkeit.

Aber da war doch eine große Geschichte. Matthias Clausen ist, bei Hauptmann, Chef eines Konzerns aus Druckerei und Zeitungsbetrieben. Die Nachkommen haben sich an seinen unermesslichen Schätzen festgesaugt, sie wollen sie haben. Und wenn der Alte dabei zum Teufel geht. Denn Clausen, seit drei Jahren Witwer, hat sich verliebt, in eine noch nicht zwanzigjährige Kindergärtnerin. Die könnte das Erbe schmälern, die muss weg. Kommt der gerade zum Ehrenbürger der Stadt Ernannte nicht zur Vernunft, muss er eben entmündigt werden.

Diese Geschichte gibt es noch im Gorki. Aber sie wird von Volker Hesse verblüffend anders erzählt: Alle Angehörigen der Familie Clausen leben wie im Drogenrausch, in den orgiastischen Zuckungen des Reichtums. Körperliche und geistige Verrenkung vermögen sie nicht mehr zu kontrollieren, sie haben keine Individualität, ja sie sind – Vieh. Bei Hauptmann ist von einem Zoo-Besuch des Geheimrats mit seiner Geliebten und dem jüngsten Sohn die Rede. Dieses Detail steigert sich in Hesses Inszenierung zum Leitmotiv. Auf der Bühne werden außer Kontrolle geratene Kreaturen vorgeführt. Sie sind feige, rennen stolpernd durcheinander, vollziehen lustlose Rammeleien. Die Inszenierung zeigt, wie überzüchtetes Bürgertum sein unrühmliches Ende findet – im Käfig. Ausgesetzt der amüsierten Beobachtung durch zahlendes Publikum.

Die Möglichkeiten zu widersprüchlicher charakterlicher Entfaltung, die Hauptmann den Figuren noch lässt, sind bei Volker Hesse beseitigt. Die Nachkommen bleiben im Ungefähren. Selbst Inken Peters (unsentimental gespielt von Anna Kubin), die jugendfrische Blonde, kann nicht ihr Anderssein ausleben. Die Inszenierung gehört Alexander Lang. Nicht mehr der von der Familie verratene Humanist steht im Mittelpunkt, sondern ein Weltweiser, der die Begierden des Clans durchschaut und lieber das ausgestopfte Nashorn füttert als seine Nachkommen. Er ist der Dompteur. Söhne und Töchter erstarren zu Salzsäulen, wenn er es will. Und doch zeigt Lang auch die Trauer über seine missglückte Schöpfung. Trauer, die sich in Lachen auflöst. Totzukriegen ist dieser Clausen nicht. Wie schon bei der Uraufführung 1932 am Deutschen Theater Berlin ist der fünfte Akt gestrichen. Werner Krauss weigerte sich, den rührseligen Selbstmord Clausens zu spielen. Clausen starb damals, Hauptmann hatte den vierten Akt schnell umgeschrieben, an Herzversagen. Im Gorki gibt es den Herzanfall als Täuschung. Langs Geheimrat schnellt immer wieder hoch, die zum Requiem durch den Raum flatternde Meute vermag ihn nicht zur Ruhe zu bringen. Langs Geheimrat endet mit gereckter Faust hoch über den Bestien, die ihn zur Strecke bringen wollten.

Im Bühnenbild von Marina Hellmann (Kostüme: Gerhard Gollnhofer) agiert ein Ensemble, das wie elektrisiert ist von der Wildheit der Inszenierung, es gibt sich den körperlichen Entfesselungen hin. Der weit vorgezogene Raum, mit schwarzen Wänden, versteckten Türen, dem kreisrunden Loch zur Welt ist wie geschaffen für den tänzerischen Furor, der eine bürgerliche Gemeinschaft in Stücke reißt.

Wieder am 21. und 26. September.

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